Margalits Selbstachtungsansatz im Kontext der Wohnungslosigkeit1

Margalit's self-respect approach in the context of homelessness

NIKLAS DUMMER, DORTMUND

Zusammenfassung: In Deutschland steigt die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen, ebenso die Zahl der Menschen, die in benachteiligten Wohnverhältnissen leben. In den wenigen philosophischen Beiträgen, die sich mit diesen Menschen befassen, wird die Misere ihrer Lebenssituation häufig als ein Problem der Freiheit konzeptualisiert. In diesem Beitrag vertrete ich die Auffassung, dass die verschiedenen Freiheitsbegriffe kaum in der Lage sind, eine präzise Anleitung zur Bestimmung der Suffizienzschwelle für angemessenen Wohnraum zu geben. Daher schlage ich einen alternativen Ansatz vor, der auf den von Avishai Margalit entwickelten Begriffen der Demütigung, der Selbstachtung und des Anstands beruht. Die Suffizienzschwelle kann hier in Bezug auf die gesellschaftlichen Wohnstandards bestimmt werden. Adäquates Wohnen, so argumentiere ich, ist eine wesentliche soziale und materielle Grundlage für die Bildung und Aufrechterhaltung von Selbstachtung. Diejenigen, denen eine solche Wohnung vorenthalten wird, haben guten Grund, sich gedemütigt zu fühlen.

Keywords: Wohnungslosigkeit, Margalit, Demütigung, Würde, Anständige Gesellschaft

Abstract: In Germany, the number of homeless people is increasing, as is the number of people living in deprived housing conditions. In the few philosophical contributions that focus on these worst-off people, the plight of their living situation is often conceptualised as a problem of freedom. In this paper, I argue that the different notions of freedom have little capacity to provide a precise guidance on how to determine the sufficiency threshold for adequate housing. Therefore, I propose an alternative approach based on the notions of humiliation, self-respect and decency as developed by Avishai Margalit. The sufficiency threshold can then be determined here in relation to society’s housing standards. Adequate housing, I argue, is an essential social and material basis for the formation and maintenance of self-respect. Those who are deprived of such housing have good reason to consider themselves humiliated.

Keywords: Homelessness, Margalit, Humiliation, Dignity, Decent Society

1 Einleitung

Wohnverhältnisse beeinflussen unsere Perspektiven im Leben entscheidend, weil sie eine Reihe von Funktionen für ein gelingendes Leben erfüllen. Wohnraum schützt vor Witterungsverhältnissen, anderen Menschen und Tieren. Er stellt einen Ort dar, an dem Menschen eine gelingende Identität aufbauen und von dem aus sie auf private wie öffentliche Infrastrukturen zugreifen können (vgl. Murphy 2020, 106). Der Wohnort – oder dessen Fehlen – kommuniziert einen bestimmten gesellschaftlichen Status. Wer ganz ohne Wohnraum ist, hat kaum Chancen, ein würdevolles Leben von normaler Länge zu führen, einen Plan vom guten Leben zu verfolgen, sich politisch zu engagieren oder einem Beruf nachzugehen (vgl. Betz 2020, 286; Bauer et al 2020, 25f.; Gillich 2020, 4–8; Zack 2020, 182; Gurr et al. 2022). Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge sind 2022 in Deutschland 607.000 Menschen wohnungslos gewesen. Davon waren 50.000 obdachlos, lebten also ganz ohne Unterkunft auf der Straße (vgl. BAG W 2023).2 Dass die Situation von Wohnungs- und Obdachlosen ein Übel darstellt, scheint unbestritten. Doch worin besteht konkret das Übel aus normativer Sicht? Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welche Formen der Wohnungsnot, neben Obdach- und Wohnungslosigkeit, Anlass zur Kritik geben?3

In den wenigen Beiträgen der Politischen Philosophie, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, wird das Problem häufig als Freiheitsproblem begriffen, wobei sich die jeweiligen Ansätze durchaus unterscheiden (vgl. Waldron 1991, 2000, 2009; Essert 2016, 2022; Wells 2022).4 Gemein ist ihnen, dass sie von minimalen normativen Voraussetzungen ausgehen. Diese Ansätze sind zwar nicht geeignet, eine gerechte Verteilung von Wohnraum zu bestimmen. Aber Theorien über eine gerechte Verteilung von Wohnraum sind normativ anspruchsvoller und damit umstrittener. Um die Situation der Menschen in Wohnungsnot zu adressieren, reicht es demgegenüber aus, gewisse Mindeststandards formulieren zu können. Durch die minimalen normativen Voraussetzungen sind freiheitsbasierte Ansätze relativ anschlussfähig. Das ist von Vorteil. Allerdings resultiert aus den minimalen Voraussetzungen eines von zwei Problemen: Freiheitsbasierte Ansätze sind entweder zu begrenzt in ihrem Umfang, weil die praktischen Forderungen, die sie begründen, zu zurückhaltend sind, um der Situation von Menschen in Wohnungsnot gerecht zu werden (vgl. van Leeuwen 2018, 590–594; Wells 2022, 1113–1117). Oder sie formulieren umfassendere Forderungen, sind dann aber mit dem Problem konfrontiert, dass der Freiheitsbegriff nur wenig Potenzial hat, genauere Hinweise darauf zu geben, wie sich eine höhere Suffizienzschwelle für adäquates Wohnen tatsächlich bestimmen lässt.

Deswegen möchte ich einen alternativen Ansatz vorstellen, der auf den Begriffen der Demütigung, Selbstachtung, Würde und Anständigkeit beruht, wie sie von Avishai Margalit in seinem Buch Politik der Würde entwickelt worden sind. Seine Gesellschaftstheorie ist stark lebensnah, bietet eine normative Grundlage zur Bewertung real existierender Institutionen und gesellschaftlicher Verhältnisse und verdeutlicht, in welchen Hinsichten unanständige Institutionen reformbedürftig sind (vgl. Neuhäuser 2013, 121). Zudem geht der Ansatz ebenfalls von schwachen normativen Voraussetzungen aus und fokussiert auf Gerechtigkeit nur in einem minimalen Sinne (vgl. ebd. 113). Ich argumentiere, dass die Situation von Obdach- und Wohnungslosen Grundlage für systematische Würdeverletzungen ist und damit die Anständigkeit einer Gesellschaft infragestellt. In weniger extremer Form gilt das auch für die Situation von Menschen, die sich in den „Grauzonen der Wohnungsnot“ (Gränitz 2022a) befinden. Darunter versteht Saskia Gränitz Wohnverhältnisse die beengt, gesundheitsschädigend, abgehängt oder unsicher sind. Adäquater Wohnraum, so lautet meine These, ist eine wesentliche soziale und materielle Grundlage für die Bildung und Aufrechterhaltung von Selbstachtung.5 Wem solcher Wohnraum vorenthalten wird, hat guten Grund, sich als gedemütigt zu erachten. Wenn dies zutrifft, haben die Institutionen einer anständigen Gesellschaft dafür Sorge zu tragen, solche Verhältnisse zu beheben und den Betroffenen die materiellen und sozialen Voraussetzungen für ein Leben in Würde zur Verfügung zu stellen. Das verlangt keine Gleichverteilung von Wohnraum, schränkt aber die zulässigen Ungleichheiten ein.

Hierfür argumentiere ich wie folgt: Zunächst erläutere ich knapp drei freiheitsbasierte Ansätze und kritisiere sie. Im Anschluss führe ich Margalits Theorie der anständigen Gesellschaft in ihren Grundzügen ein und kläre ihre zentralen Begriffe. Im nächsten Abschnitt erarbeite ich auf Grundlage von Margalits Theorie eine Systematik demütigender Wohnverhältnisse. Schließlich stelle ich kurz dar, auf welche Weise sich Ansprüche auf der Grundlage von Margalits Ansatz formulieren lassen. Hierbei geht es darum, zu zeigen, dass ein minimal gerechter und auf Selbstachtung beruhender Ansatz besser geeignet ist, das Problem der Wohnungslosigkeit und andere Formen der Wohnungsnot adäquat zu erfassen. Das liegt darin begründet, dass ein solcher Ansatz aufgrund seines relationalen Gehalts die Möglichkeit bietet, eine Suffizienzschwelle für adäquates Wohnen zu bestimmen, die für wohlhabende Gesellschaften nicht zu minimal erscheint. Es geht nicht darum, Margalits Selbstachtungsansatz vollständig zu verteidigen.6 Vielmehr möchte ich, im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts, zeigen, dass die Theorie gut geeignet ist, Einsicht in die normativen Problematiken rund um das Thema Wohnungsnot zu gewähren – was wiederum die Leistungsfähigkeit dieser Theorie bezeugt.

2 Freiheitsbasierte Ansätze

Freiheitsbasierte Ansätze begreifen Wohnungslosigkeit als strukturell bedingte Verwehrung bestimmter Freiheiten. Laut dem klassischen Vorschlag von Jeremy Waldron besteht ein Übel, das Obdachlosen widerfährt, in der Einschränkung ihrer negativen Freiheit, grundlegenden körperlichen Funktionen nachgehen zu können, etwa schlafen oder sich waschen (vgl. Waldron 1991, 301; 2009, 180). Grund dafür ist die Regulierung des Bodeneigentums in liberalen Gesellschaften (vgl. Waldron 1991, 299): „For the most part the homeless are excluded from all of the places governed by private property rules, whereas the rest of us are, in the same sense, excluded from all but one (or maybe all but a few) of those places“ (ebd. 300). Aufgrund einer obdachlosenfeindlichen Regulierung öffentlicher Plätze können sie auch dort grundlegenden Funktionen nicht nachgehen (vgl. Waldron 2009, 174). Die Eigentumsverhältnisse bedrohen Obdachlose deswegen, in ihrem Recht zu sein, argumentiert Waldron (vgl. Waldron 1991, 308). Um ihre negative Freiheit zu schützen, sollten öffentliche Plätze stärker im Sinne von Obdachlosen reguliert und gestaltet werden. Es brauche mehr sanitäre Anlagen und Obdachlose dürften nicht mehr vertrieben werden (vgl. ebd., 321).

Waldrons Ansatz wird vor allem wegen seiner moderaten Forderungen kritisiert (vgl. Wells 2022, 1113; van Leeuwen 2018, 591; Essert 2016, 275).7 Wohlhabende Gesellschaften scheinen in der Lage zu sein, mehr für Obdachlose zu leisten, als ihnen bloß zu ermöglichen, ihre grundlegenden Bedürfnisse im öffentlichen Raum zu stillen und dort existieren zu können (vgl. van Leeuwen 2018, 591; Noddings 2002a, 445). Christopher Essert und Katy Wells haben aufgrund dieses Minimalismusvorwurfs versucht, das Freiheitsargument auszuweiten. Es ist allerdings unklar, inwieweit die zugrundeliegenden Freiheitskonzepte ihre umfassenderen Forderungen tatsächlich rechtfertigen können.

Essert rückt die republikanische Freiheit vor Unterwerfung unter den Willen anderer in den Mittelpunkt seiner Argumentation (vgl. Essert 2016, 288f.): Was ein Obdachloser im öffentlichen Raum tun kann, hängt ab von den Regeln, die die Gesellschaft für diesen Raum aufstellt. Da er über keinen Ort verfügt, an dem er frei über sich bestimmen kann, ist er unterworfen (vgl. Essert 2016, 276). Wohnungslose verfügen ebenfalls über keinen Raum, in dem sie frei sind von Beherrschung. Ihre Gastgeber:innen – Bekannte, die sie in ihrer Wohnung unterkommen lassen, oder die Leitung einer öffentlichen Unterkunft – können Wohnungslose jederzeit vor die Tür setzen (vgl. Essert 2016, 274). Die Not von Obdach- und Wohnungslosen besteht laut Essert also nicht nur darin, dass ihre dringendsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Selbst wenn sie mit einer vorübergehenden Unterkunft versorgt sind, sind sie weiterhin unterworfen, weil sie keine Eigentumsrechte über Wohnraum haben, der es ihnen ermöglicht, an wertvollen Aktivitäten und Beziehungen teilhaben zu können, wie daheim Zeit mit Freund:innen und der Familie zu verbringen, Dinnerparties zu schmeißen oder zu duschen (vgl. Essert 2022, 471). Entsprechend lautet sein Lösungsvorschlag, Obdach- und Wohnungslosen Eigentumsrechte über einen solchen Raum zu gewähren.8

Esserts Ansatz formuliert umfangreichere Forderungen als Waldrons hinsichtlich des Adressat:innenkreises und des Inhalts. Er nimmt nicht nur Straßenobdachlosigkeit in den Blick, sondern auch Wohnungslosigkeit und fordert, betroffene Menschen mit Wohnraum zu versorgen, in dem sie an wertvollen Aktivitäten und Beziehungen teilhaben können. Dies entspricht weit mehr den gängigen Intuitionen als Warldrons Forderungen. Esserts Ansatz könnte also dem Minimalismusvorwurf entgehen. Auf konzeptioneller Ebene besteht allerdings ein Problem: Bei Essert bleibt offen, inwieweit das Ausführen wertvoller Aktivitäten und die republikanische Nichtunterwerfung zusammenhängen. Das Kriterium der wertvollen Aktivitäten, das Essert erst in einem späteren Aufsatz genauer ausführt (vgl. Essert 2022), ergibt sich nicht ohne Weiteres aus der Forderung der Nichtunterwerfung und erscheint somit ein stückweit ein ad hoc-Kriterium zu sein. Damit erbringt es keine direkte Begründungsleistung für die Bestimmung einer Suffizienzschwelle für adäquaten Wohnraum.

Katy Wells präsentiert ebenfalls eine anspruchsvollere Version eines freiheitsbasierten Ansatzes. Sie stellt einen an John Rawls orientierten Autonomiebegriff in den Mittelpunkt: „[A]utonomy is understood as the capacity to form, revise and pursue a conception of the good – an idea of the good life – or, more straightforwardly, a plan of life“ (Wells 2022, 1118). Wohnungslosigkeit ist problematisch, weil Betroffenen bestimmte materielle Voraussetzungen fehlen, um Autonomie in diesem Sinne zu erlangen. Wohnraum sei eine solche Voraussetzung, weil Menschen dort grundlegende Funktionen ausüben können und weil sie dort sicher sind (vgl. ebd. 8f.). Ohne Wohnraum sei es unmöglich, einen Plan vom guten Leben zu verfolgen. Um den materiellen Voraussetzungen für ein autonom geführtes Leben zu entsprechen, müsse der Anspruch auf Wohnraum für einen angemessenen Mindestzeitraum gesichert sein und der Wohnraum gewisse Mindeststandards erfüllen: „[I]t must not, for instance, be mouldy, dangerous, unheated, or in poor repair“ (Wells 2022, 1119).

Auch Wells‘ Ansatz entgeht dem Minimalismusvorwurf, hat aber ein ähnliches Problem wie Esserts Ansatz. Es bleibt unklar, warum Autonomie als zentraler Wert eine geeignete normative Grundlage für die Forderung nach adäquatem Wohnraum darstellt, und was für Ansprüche an adäquaten Wohnraum sich auf dieser Grundlage konkret formulieren lassen. Warum sollte eine unbeheizte, schimmlige Wohnung ausgerechnet als eine Bedrohung der Autonomie einer Person begriffen werden? Der soziale Aufstieg vieler Kinder aus armen Verhältnissen zeigt beispielsweise, dass es durchaus möglich ist, einen Plan vom guten Leben zu entwickeln und zu verfolgen, wenn man in beengten oder schimmligen Wohnverhältnissen aufwächst. Eine solche Situation kann für manche Menschen sogar eine starke Motivation dafür sein, diesen Verhältnissen zu entrinnen. Trotzdem sollte in einer wohlhabenden Gesellschaft niemand so aufwachsen müssen. Das Problem an solchen Verhältnissen scheint weniger, dass sie die Autonomie einschränken, auch wenn sie dazu durchaus geeignet sind. Das Problem ist vielmehr, dass sie die Würde dieser Menschen verletzen. Das ist unabhängig davon der Fall, ob die Betroffenen trotz oder gerade wegen dieser Umstände in der Lage sind, einen Plan vom guten Leben zu verfolgen – oder die Umstände sie tatsächlich daran hindern. Der Autonomie-Begriff erscheint aus normativer Perspektive zu dünn, um daraus konkrete Wohnansprüche für die von Wohnungsnot betroffenen in wohlhabenden Gesellschaften ableiten zu können.

Auf Grundlage der negativen Freiheit lassen sich, so habe ich argumentiert, konsistent minimale Forderungen hinsichtlich der Ansprüche von Obdachlosen formulieren. Diese erscheinen vielen aber zu geringfügig, um der Situation von Menschen in Wohnungsnot tatsächlich gerecht zu werden. Formulieren Autor:innen umfassendere Forderungen auf Grundlage anderer Freiheitskonzepte, bleibt unklar, inwieweit diese Forderungen tatsächlich aus der jeweiligen normativen Grundlage folgen. In den nächsten Abschnitten möchte ich deswegen einen leistungsfähigeren Ansatz vorstellen, Wohnungsnot zu diskutieren, nämlich Margalits auf Selbstachtung beruhende Würdetheorie. Leistungsfähiger ist dieser Ansatz, so argumentiere ich, aufgrund seines relationalen Gehalts. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche materiellen und sozialen Voraussetzungen notwendig sind, sich in einer bestimmten Gesellschaft als tatsächlich gleichrangiges Mitglied präsentieren zu können und von anderen als solches anerkannt zu werden. Die Forderungen, die sich auf dieser Grundlage formulieren lassen, ergeben sich also aus den jeweiligen gesellschaftlichen Standards und entgehen so dem Minimalismusvorwurf.

3 Selbstachtung, Würde und Demütigung bei Margalit

Avishai Margalit entwickelt seine Sozialphilosophie negativ auf Grundlage einer wenig umstrittenen Prämisse: „Grausamkeit ist das schlimmste Übel, die Vermeidung von Grausamkeit damit das höchste moralische Gebot“ (Margalit 2018, 92, 147). Im Kern rekurriert der Begriff Grausamkeit auf körperliche Grausamkeit (vgl. ebd. 151). Als eine Form „seelischer Grausamkeit“, als „Ausdehnung der Grausamkeit vom physischen auf den psychischen Bereich“ (ebd. 92) bestimmt Margalit Demütigungen: „Unter Demütigung verstehen wir alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“ (ebd. 21). Das ist der Fall, wenn die Selbstachtung eines Menschen auf eine Weise angegriffen wird, die dazu geeignet ist, seine Fähigkeit zu unterminieren, sich selbst als gleichwertiger Mensch zu achten.

Margalit unterscheidet drei Sinngehalte des Demütigungsbegriffs: „Menschen so zu behandeln, als ob sie keine Menschen wären, der Ausschluß aus der Menschengemeinschaft und Handlungen, die zum Verlust der Selbstkontrolle führen oder diesen verdeutlichen“ (ebd. 149). Notwendige Voraussetzung dafür, sich innerhalb einer sozialen Gemeinschaft selbst achten zu können, ist es also, von Institutionen und anderen Menschen als gleicher Mensch geachtet zu werden und über die materiellen und sozialen Grundlagen zu verfügen, sein Leben in grundsätzlichen Fragen selbst bestimmen zu können.9

Den Begriff der Demütigung verwendet Margalit vor allem normativ und weniger psychologisch als dies im alltäglichen Sprachgebrauch der Fall ist (vgl. Neuhäuser 2013, 110–112). Ihm ist daran gelegen, auf Grundlage einer moralphilosophischen Betrachtung demütigende Verhaltensweisen und Verhältnisse zu identifizieren. Das ist notwendig, denn Menschen fühlen sich aus allen möglichen Gründen in ihrer Selbstachtung verletzt. Wenn ein Philosophieprofessor sich keine Altbauwohnung in der Münchener Innenstadt leisten kann, obwohl er überzeugt ist, ihm stünde eine solche zu, kann er sich subjektiv in seiner Selbstachtung verletzt sehen. Einen rationalen Grund dafür scheint er aber nicht zu haben. Demütigungen ergeben sich bei Margalit nicht schon aus einem bloßen Schamempfinden oder vereinzelten Kränkungen. Vielmehr geht es um systematische Verletzungen der Selbstachtung eines Menschen: Wenn er in Verhältnissen lebt, in denen er ständig unmenschlich behandelt oder missachtet wird oder ihm die Kontrolle über zentrale Aspekte des eigenen Lebens verwehrt bleibt, ist er kaum in der Lage, seine Selbstachtung aufrechtzuerhalten. Dann hat er einen hinreichenden Grund, sich gedemütigt zu sehen.

Was können wir uns konkret unter einem Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft vorstellen? Unser Menschsein ist schließlich ein biologisches Faktum und kann uns, ganz unabhängig von der Behandlung durch andere, nicht genommen werden (vgl. Bird 2008). Eine extreme Form eines solchen Ausschlusses, der über Wohnverhältnisse kommuniziert wird, stellen die jüdischen Ghettos im Europa vergangener Jahrhunderte dar. Der Soziologe Loïc Wacquant beschreibt diese Ghettos als „begrenzte, ethnisch homogene sozialräumliche Anordnung [...], die aus der Verbannung einer stigmatisierten Bevölkerungsgruppe hervorgegangen ist“ (Wacquant 2018, 42). Die betroffenen Menschen wurden aufgrund einer ihnen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit physisch vom Rest der Gesellschaft getrennt (vgl. ebd. 42f.). Eine solche Verbannung findet sich heute in weniger krassen, aber trotzdem demütigenden Formen.10

Die zweite paradigmatische Form der Demütigung beschreibt Margalit als „intentionale Freiheitsbegrenzung und de[n] Verlust der Kontrollfähigkeit eines Menschen“ (Margalit 2018, 121). Laut Margalit ist es unsere Selbstkontrolle, die anderen Menschen „in hohem Maße Respekt einflößt“ (ebd.). Gesten der Selbstkontrolle sind sowohl für das Erlangen von sozialer Ehre als auch für die Wahrung der persönlichen Würde wichtig. Wir unterminieren die Selbstkontrolle von Menschen, wenn wir sie daran hindern, Entscheidungen über ihre „vitalen Interessen“ zu treffen (vgl. ebd. 124). Der Entzug der Selbstkontrolle hat neben der physischen Komponente – etwa dem Einsperren oder Fesseln eines Lebewesens – immer auch einen symbolischen Gehalt, der in der „Unterwerfung des Opfers“ (ebd. 150) zum Ausdruck kommt. „Demütigende Gesten legen es fast immer darauf an, dem Opfer zu zeigen, daß es sein Schicksal nicht mehr in der Hand hat und der Gunst oder vielmehr der Brutalität seiner Peiniger wehrlos ausgeliefert ist“ (ebd. 122).

Ausgehend von seinem Demütigungsbegriff stellt Margalit nicht die gerechte Gesellschaft, wie sie John Rawls entworfen hat, in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie, sondern die normativ weniger anspruchsvolle anständige Gesellschaft. Anständig ist eine Gesellschaft, „wenn ihre Institutionen den Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten“ (ebd. 22). Um anständig zu sein, müssen Institutionen demütigende Verhältnisse aktiv bekämpfen (vgl. ebd.). Ungerechte Verteilungsverhältnisse dagegen können sie bis zu einem gewissen Grad hinnehmen. Die anständige Gesellschaft ist damit „nur in einem minimalen und nicht idealen Sinne gerecht“ (Neuhäuser 2013, 113). Eine gerechte Gesellschaft dagegen ist nicht nur nichtdemütigend, sondern gewährleistet auch eine gerechte Güterverteilung (vgl. Margalit 2018, 259f.). Ein Urteil darüber, was eine gerechte Verteilung darstellt, ist allerdings normativ deutlich voraussetzungsreicher und damit auch umstrittener als das Gebot, Grausamkeit zu vermeiden. Auch wenn Margalit dies nicht systematisch ausführt, so betont er gleich zu Anfang seines Buchs, dass staatlicher Wohnungsbau eine der zentralen Institutionen einer anständigen Gesellschaft sei (vgl. ebd. 15).

Adäquater Wohnraum, so lautet die These, die ich im Folgenden begründen möchte, ist eine wichtige materielle und soziale Voraussetzung für das Erlangen und Aufrechterhalten von Selbstachtung. Das liegt darin begründet, dass Wohnraum und die ihn umgebende Nachbarschaft das Selbstbild der Bewohner:innen und ihre Wahrnehmung durch andere prägen. Wohnen hat einen privaten und einen relationalen Wert. Privat ist er insofern, als Wohnraum ein geschützter Raum ist, in dem Menschen sich zurückziehen und wichtige Aspekte ihrer Identität ausbilden und ausdrücken können. Wer darüber nicht verfügt, dem fehlt Raum für Schutz, Erholung und die Entfaltung grundlegender Fähigkeiten. Relational ist der Wert einerseits, weil dieser Raum es Menschen ermöglicht, sich mit anderen zu treffen und ihre Zugriffsmöglichkeiten auf Infrastrukturen und den damit verbundenen Aufwand bestimmt. Andererseits beeinflusst er den sozialen Status von Menschen, weil er Statussymbol und Wohlstandsindikator ist (vgl. Lebuhn et al. 2017: 68).11

Was sind nun mit Blick auf das Wohnen gute Gründe, sich als gedemütigt zu erachten? Warum würden viele besagtem Professor diese Gründe absprechen, aber möglicherweise nicht einer alleinerziehenden Mutter, die mit zwei Kindern in einer beengten Zweizimmerwohnung lebt, in der es an Rückzugsraum fehlt, und erst recht nicht einer Obdachlosen? Um im nächsten Abschnitt solche Fälle voneinander zu unterscheiden, sind drei begriffliche Unterscheidungen zentral (vgl. Neuhäuser 2010, 355): Margalit grenzt Demütigungen von bloßen Kränkungen ab (vgl. Margalit 2018, 125), Selbstachtung vom Selbstwertgefühl (vgl. ebd. 55–58) und Würde von sozialer Ehre (vgl. ebd. 52–54).

Ohne die Unterscheidung zwischen demütigenden und kränkenden Verhältnissen wäre der Begriff der Demütigung überinklusiv. Denn nicht jede Ungleichheit der Wohnverhältnisse verletzt sogleich die Menschenwürde. Der Philosophieprofessor scheint keinen Grund zu haben, sich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen, weil sein Einkommen im oberen Bereich der Einkommensverteilung liegt und er in München verschiedene Wohnungen zur Auswahl hat. Er ist weder in seiner Selbstkontrolle eingeschränkt noch in seinen Möglichkeiten, sich als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu achten und entsprechend zu präsentieren. Gleichwohl kann er sich gekränkt fühlen ob der Tatsache, dass eine Professorin für zahnärztliche Prothetik sich im Gegensatz zu ihm eine Altbauwohnung dort leisten kann. Doch das ist nichts, was die Anständigkeit einer Gesellschaft infragestellt. Kränkungen sind lediglich geeignet, das Selbstwertgefühl eines Menschen zu verringern und damit seine Ehre zu verletzen (vgl. ebd. 125). Auch wenn der Begriff der Würde dem Begriff der Ehre nahesteht, unterscheiden sie sich (vgl. ebd. 54). Der Begriff der Ehre ist graduierbar: Nicht jedem Menschen kann im gleichen Maße soziale Ehre erwiesen werden, sonst wäre sie „bedeutungslos“ (ebd. 53). Soziale Ehre erhalten Menschen für das, was sie geleistet haben. Schon rein begriffslogisch kann nicht jede:r Herausragendes leisten. Deswegen eignet sich der Begriff der Ehre nicht als Grundlage für die anständige Gesellschaft, so Margalit.

Diese Begründungsleistung erfüllt der Gegenbegriff zur Ehre, die Würde: „[S]ie muß jedem in gleichem Maße gewährt werden, allein aufgrund dessen, was er ist, und nicht aufgrund dessen, was er getan hat“ (ebd.). Würde bildet für Margalit die Grundlage der gleichen Achtung, die jedem Mitglied der menschlichen Gemeinschaft aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft entgegengebracht werden soll (vgl. ebd. 35). Diese Achtung ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen eine spezifische Form des Selbstverhältnisses entwickeln können, ihre Selbstachtung. Selbstachtung lässt sich als eine Art verinnerlichter sozialer Wertschätzung beschreiben, als Überzeugung, tatsächlich gleichrangig zu sein (vgl. Pollmann 2011, 255). Deswegen erachtet Margalit unmenschliche Behandlungen und Verhältnisse, die solche Behandlungen begünstigen, als paradigmatische Fälle der Demütigung. Sie kommunizieren einen Ausschluss aus der Menschheitsgemeinschaft. Der Begriff der Würde ist also eng verknüpft mit dem grundlegenderen Begriff der Selbstachtung: „Würde läßt sich mithin als Verkörperung oder Abbild der Selbstachtung begreifen“ (Margalit 2018, 62). Nur wer sich tatsächlich selbst achtet, kann in Würde leben, also seine Selbstachtung im sozialen Leben nach außen hin verkörpern, etwa über sein Verhalten und sein Erscheinungsbild.12 Heike Baranzke beschreibt Würde bei Margalit treffend als „einen sinnlich erfahrbaren tätigen Ausdruck der Selbstachtung eines Menschen“ (Baranzke 2010: 181). Die Würde stellt den äußeren Aspekt der Selbstachtung dar, während die Selbstachtung auf ein inneres Selbstverhältnis verweist.

Margalits Bestimmung der Würde als Außenseite der Selbstachtung ermöglicht es ihm, zu zeigen, dass Selbstachtung kein rein psychologisches Phänomen ist, sondern von sozialen und materiellen Umständen abhängt, nämlich davon, dass ein Mensch sich in einer Gesellschaft als gleichwertiger Mensch darstellen kann und tatsächlich die Zugehörigkeitsstandards erfüllt. Einer Obdachlosen in verschmutzten Klamotten fehlen die Mittel hierfür. Aufgrund ihrer Erscheinung kann sie sich nicht einmal unter Fremden als gleichwertiger Mensch darstellen, was ihr die häufig ablehnenden, angewiderten oder völlig ignorierenden Haltungen von Passant:innen auch klar zu Bewusstsein bringen (vgl. Gurr 2022 et al., 408). Sie ist zudem auf Almosen und Hilfeleistungen angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen, hat also kaum Kontrolle über ihr Leben. Der Philosophieprofessor verfügt dagegen über diese Mittel, auch ohne Altbauwohnung. Die materiellen Voraussetzungen, um sich als Gleiche zu präsentieren und tatsächlich als solche anerkannt zu werden, sind stark gesellschaftsabhängig. Verschiedene Gesellschaften kommunizieren auf unterschiedliche Weise, dass jemand ein Mensch zweiter Klasse ist (vgl. Neuhäuser 2013, 111). Was aber gesellschaftsübergreifend gilt: Wer über diese Mittel nicht in ausreichendem Maße verfügt, kann seine Selbstachtung kaum aufrechterhalten.

Das liegt darin begründet, dass die Selbstachtung des Menschen stets auf die Anerkennung als Mensch durch andere Menschen und Institutionen angewiesen und in diesem Sinne sozial konstruiert ist (vgl. Margalit 2018, 129; Neuhäuser 2010, 359). Ihr intersubjektiver Gehalt macht Selbstachtung zu etwas Prekärem, da andere Menschen oder Institutionen diese Anerkennung verweigern können (vgl. Margalit 2018, 219f.). Davon sind in Deutschland häufig Obdachlose, aber auch Sinti:zze und Rom:nja betroffen.

Der grundlegendere Begriff zur Ehre ist das Selbstwertgefühl. Auch das Selbstwertgefühl muss ständig durch die Interaktion mit anderen Menschen evaluiert werden, dient aber im Gegensatz zur Selbstachtung als Grundlage für die Hierarchisierung der Menschen (vgl. ebd. 35, 57). Der äußere Ausdruck unseres Selbstwertgefühls ist Stolz (vgl. ebd. 61). „Kränkungen greifen das Selbstwertgefühl eines Menschen an, während Demütigungen den inneren Wert einer Person anfechten“ (ebd. 125). Eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls kann schlimme Folgen zeitigen. Wer sein Selbstwertgefühl vollständig einbüßt, wird kaum in der Lage sein, seine Selbstachtung zu verteidigen (vgl. ebd. 226). Aber die meisten Ungleichheiten stellen das Selbstwertgefühl von Menschen nicht auf solch extreme Weise infrage. Das gilt auch für ungleiche Wohnverhältnisse. Eine anständige Gesellschaft kann Ungleichheiten tolerieren, solange sie keinen erniedrigenden Charakter annehmen (vgl. ebd. 163). Ungleichheiten dürfen das Selbstwertgefühl der Menschen verletzen, nicht aber ihre Selbstachtung. Um bloß kränkende von demütigenden Wohnverhältnissen zu unterscheiden, müssen wir betrachten, wie Margalit das Demütigungsverbot und den Anspruch auf Selbstachtung begründet.

Um die Achtungswürdigkeit des Menschen zu begründen, stellt er eine positive und eine negative Begründung vor, wobei die negative im Zentrum seiner Betrachtung steht. Positiv begründet er die Achtungswürdigkeit mit der menschlichen Fähigkeit, sich in Zukunft zu verändern und eine bessere Persönlichkeit zu entwickeln (vgl. ebd. 79). Wenn eine Gesellschaft psychisch erkrankte oder suchtkranke Obdachlose ihrem Schicksal überlässt, statt ihnen Hilfsangebote zu machen und versucht, ihnen zu einem geordneten Leben zu verhelfen, dann spricht sie ihnen ebendiese Änderungsfähigkeit ab (vgl. Daßler 2022, 9f.). Das Gleiche gilt, wenn die Selbstkontrolle von Menschen unterminiert wird, weil sie bevormundenden Institutionen ausgesetzt sind. Während die positive Begründung auf eine achtungsgebietende Eigenschaft des Menschen rekurriert, verweist die negative Begründung darauf, dass Menschen nicht nur physisch, sondern auch durch symbolische Handlungen verletzt werden können.13 Die Tatsache, dass Menschen „Seelenqual“ (ebd. 91) erleiden, rechtfertigt das Nichtdemütigungsgebot. Damit begründet Margalit nicht, warum Menschen Anerkennung verdienen, sondern verweist negativ auf die Intuition, dass Grausamkeit stets zu vermeiden ist. Demütigungen stellen das Gegenteil der Achtung der Menschenwürde dar.

In alltäglichen demütigenden Verhaltensweisen werden Menschheitsverbrechen wie Holocaust und Sklaverei, die Margalit als paradigmatische Demütigungserfahrungen diskutiert, stets angedeutet und den Gedemütigten gegenüber als Möglichkeit zum Ausdruck gebracht: Wer heute nur als weniger wertvoll betrachtet wird, kann in (ferner) Zukunft vollständig aus der Menschengemeinschaft ausgeschlossen werden. Formen des Nichtbeachtens bestimmter Gruppen von Menschen stellen dann ebenfalls eine Form des Ausschlusses dar, die aber indirekt wirkt (vgl. ebd. 147). Allgemein sind es vor allem indirekte Formen des Ausschlusses, die in gegenwärtigen Gesellschaften weit verbreitet sind:

Demütigung ist [...] – auch in ihrer institutionellen Form – ein weitverbreitetes Phänomen. Um auf sie zu stoßen, muß man nicht erst Gefängnisse anführen [...] und schon gar nicht entlegene Arbeitslager. Und mag sie in ihrer alltäglichen Erscheinungsweise auch nicht immer als direkter Ausschluß aus der menschlichen Gemeinschaft zu beschreiben sein, so tritt sie doch in Form eines indirekten Ausschlusses auf. Dieser äußert sich in der Degradierung von Gruppen, denen die einzelne Person angehört und welche die Art und Weise ihrer Lebensführung entscheidend beeinflussen. (ebd. 141)

Margalit knüpft Nichtdemütigung also an schwache Kriterien wie Selbstkontrolle und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Menschen. Die entscheidende Frage lautet nun: Können Wohnverhältnisse Menschen tatsächlich in diesem Sinne demütigen und falls ja, wie konkret? Können sie, um Margalits paradigmatische Demütigungsformen aufzugreifen, Menschen aus der Menschheitsgemeinschaft ausschließen und ihnen die Selbstkontrolle nehmen? Oder kränken etwaige materielle Ungleichheiten und Statusunterschiede, die in Wohnverhältnissen zum Ausdruck kommen, bloß das Selbstwertgefühl und den Stolz der Menschen, lassen ihre Selbstachtung und Menschenwürde aber unberührt?

Mit Margalit möchte ich im nächsten Abschnitt systematisch ausführen, was ich in diesem Abschnitt nur angedeutet habe: Wohnverhältnisse können die Selbstachtung von Menschen verletzen. Das ist notwendig, um meine zentrale These zu begründen, nämlich dass adäquater Wohnraum eine materielle und soziale Voraussetzung dafür ist, sich selbst achten zu können. Auf Grundlage von Margalits Sozialphilosophie lassen sich konkrete Kriterien für adäquates Wohnen in wohlhabenden Gesellschaften ableiten.

4 Demütigende Wohnverhältnisse

Im Folgenden argumentiere ich, dass Menschen, die obdach- oder wohnungslos sind, aber auch Menschen, die sich in der „Grauzone der Wohnungsnot“ (Gränitz 2022b, 206) befinden, gute Gründe haben, ihre Wohnverhältnisse als demütigend zu erachten, und sich damit auch selbst gedemütigt zu sehen. Wenn Verhältnisse demütigend sind, kommt den Institutionen einer anständigen Gesellschaft die Verantwortung zu, etwas an diesen Umständen zu ändern. Hierbei sollte auch klarer werden, was es im Kontext des Wohnens bedeutet, Menschen auf institutioneller Ebene durch verwehrte Achtung in ihrer Selbstachtung zu verletzen.

4.1 Obdach- und Wohnungslosigkeit

Bei Obdachlosen wird der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Menschen besonders deutlich. Sie sind nicht nur mit demütigenden Verhaltensweisen konfrontiert. Ihre Lebensverhältnisse sind auch demütigend, weil sie vieler solcher Verhaltensweisen begünstigen. Wer obdachlos ist, ist nicht nur schutzlos der Witterung ausgesetzt, sondern auch anderen Menschen. Die erzwungene Öffentlichkeit von Obdachlosen macht sie anfälliger für demütigende und grausame Behandlungen (vgl. Gurr et al. 2022, 404). Sie leben ständig in der Gefahr, körperlich und sozial erniedrigt zu werden14, sie haben keine gesicherte Privatsphäre und keinen Rückzugsraum. Sie sind gezwungen, grundlegende körperliche Bedürfnisse in der Öffentlichkeit zu verrichten, was zu ihrer Stigmatisierung beiträgt, und ihre Selbstachtung angreift (vgl. Waldron 1991; van Leeuwen/Merry 2018: 4). Studien zum Umgang mit Obdachlosen belegen, dass Obdachlose in besonderem Maße stigmatisiert werden, etwa durch die Unterstellung schmutzig, arbeitsscheu, drogen- und alkoholabhängig zu sein (vgl. Phelan et al. 1997, 335; Gerull 2018, 32; Lee et al. 2010, 508; Bauer et al. 2020, 32; Gurr et al. 2022, 422).15 Diese Zuschreibungen prägen ihr Selbstbild und ihr Bild über andere Obdachlose. Außerdem sprechen sie ihnen die Änderungsfähigkeit und damit die Selbstkontrolle ab.

Soziale Umgangsformen – beispielsweise einen Menschen zurückgrüßen, innehalten, wenn er einen anspricht, ihm beim Sprechen anschauen – die den meisten Menschen Nicht-Obdachlosen gegenüber als selbstverständlich erscheinen, werden obdachlosen Menschen häufig vollständig verwehrt oder nur widerwillig und unter großen Mühen zugestanden. Das ist eine Form der Missachtung. Das Erscheinungsbild von Obdachlosen führt mitunter dazu, dass Mediziner:innen ihnen die ‚Wartezimmerfähigkeit‘ absprechen und sie abweisen. In einer Befragung von Obdachlosen, die Zugang zum Regelsystem hatten, berichteten 35 Prozent, dass sie nicht als Patient:innen bei Ärzt:innen aufgenommen worden sind. In solchen Situationen wird ihr gesellschaftlicher Status als Ausgestoßene klar zum Ausdruck gebracht. Weitere 18 Prozent gaben an, dass sie sich zu sehr schämen Ärzt:innen aufzusuchen (vgl. Bauer et al. 2020, 31), was die Verinnerlichung solcher Zuschreibungen zeigt.

Die ständige Behandlung als Mensch zweiter Klasse lässt den Betroffenen kaum Möglichkeiten, die grundlegende Rolle als gleicher Mensch innerhalb einer Gesellschaft auszufüllen oder eine Überzeugung von der eigenen Gleichwertigkeit auszubilden. Folgen davon sind Ohnmacht, Rückzug und Isolation (vgl. Gurr et al. 2022, 422). Die Betroffenen haben ein geringes Selbstwertgefühl, fühlen sich in einer ausweglosen Situation gefangen und leiden unter Suizidgedanken (vgl. Kidd 2007).

Obdach- und Wohnungslose sind zudem massiv in ihrer Selbstkontrolle eingeschränkt. Auch das gefährdet ihre Selbstachtung. Ihre Lebensbedingungen steigern das Risiko, Dinge für andere Menschen tun zu müssen, die sie nicht tun möchten, um die eigenen Grundbedürfnisse zu erfüllen: Hungernde und frierende Menschen sind eher bereit, ihre persönliche Würde gegen Nahrung oder Unterkunft einzutauschen, etwa indem sie sexuelle Dienstleistungen erbringen oder bestimmte Haushaltsaufgaben übernehmen.16 Wer wohnungslos ist, ist in der Regel vollkommen abhängig von seinen Gastgeber:innen, was häusliche Gewalt begünstigt (vgl. Sonnenberg 2021, 22, 36). All das sind klare Fälle von unmenschlicher Behandlung. Ihre unsichere Wohnsituation macht diese Menschen für solche Demütigungen erst anfällig. Außerdem fehlen ihnen die finanziellen Mittel, um ihr Leben in grundlegenden Bereichen selbst zu bestimmen. Menschen, die ohne eigenen Wohnraum und damit ohne eigene Adresse sind, haben es deutlich schwerer, Vermieter:innen zu finden, die sie als Mieter:innen akzeptieren (vgl. Gränitz 2022a, 66) oder einer geregelten Arbeit nachzugehen.

Nun geht es Margalit zuvorderst um institutionelle Demütigungen. Das bisher geschilderte, so ließe sich einwenden, sind Fälle zwischenmenschlicher Demütigungen und damit nicht per se unvereinbar mit einer anständigen Gesellschaft. Allerdings werden Obdachlose nicht nur von Passant:innen wie ‚Untermenschen‘ behandelt. Tag für Tag wird ihnen auch von institutioneller Seite deutlich kommuniziert, dass sie im öffentlichen Raum nicht erwünscht sind, beispielsweise durch obdachlosenfeindliche Architektur und indem städtische Mitarbeiter:innen sie aus Parks oder U-Bahnstationen vertreiben (vgl. Waldron 1991; Gurr 2022 et al., 408) oder ihr Hab und Gut wie Müll entsorgen. Außerdem werden sie beschämenden Situationen ausgesetzt, wenn sie beispielsweise ungewaschen Behördengänge absolvieren müssen. Insbesondere in wohlhabenden Gesellschaften, die grundsätzlich über die Mittel verfügen, etwas an der Situation von Obdach- und Wohnungslosen zu ändern, scheint ein solcher Ausschluss besonders demütigend.

Darüber hinaus haben die gesellschaftlichen Institutionen Einfluss auf den Wohnungsmarkt und dessen Regulierung sowie die Mittel, ein effizientes Hilfesystem für Obdach- und Wohnungslose bereitzustellen. Es lässt sich also argumentieren, dass die gesellschaftlichen Institutionen ihrer Aufgabe nicht nachkommen, demütigende Verhältnisse abzuschaffen (vgl. Margalit 2018, 22). Wenn Personen existenziell bedroht sind und die gesellschaftlichen Institutionen ihnen nicht helfen, obwohl sie prinzipiell dazu in der Lage wären, verletzen sie durch Unterlassung die Würde der betroffenen Menschen.

Dagegen lässt sich wiederum einwenden, dass die Wohnungslosenhilfe, so mangelhaft und unterfinanziert sie in ihrer gegenwärtigen Form auch sein mag, zeigt, dass Wohnungslose vonseiten der Institutionen nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Allerdings ist diese Behauptung kaum aufrechtzuerhalten. Wer wohnungslos ist, ist von der materiellen wie sozialen Teilhabe an der Gesellschaft in weiten Teilen ausgeschlossen. Zwar gibt es Notunterkünfte, Suppenküchen und andere Hilfsangebote für sie, aber dort begegnen sie in der Regel anderen Hilfsbedürftigen, die ebenfalls in materieller Hinsicht ausgeschlossen sind. Zudem erhalten sie Hilfe mitunter nur, wenn sie pädagogische Interventionen über sich ergehen lassen, was viele Betroffene als paternalistisch und stigmatisierend empfinden (vgl. Gurr et al. 2022, 416, 422; Noddings 2002a, 447). Die Unterbringung hat zudem eine verwaltende-verwahrende Funktion, weil es auch darum geht, die Wohnungslosen aus der Öffentlichkeit fernzuhalten (vgl. Sonnenberg 2021, 71), was ebenfalls einen gesellschaftlichen Ausschluss kommuniziert. In Notunterkünften müssen sich Wohnungslose strengen Regeln unterwerfen und auf Dienstleistungen warten, die nicht wie etwas, worauf sie Anspruch haben, erbracht werden, sondern als handelte es sich um Almosen. Sie werden zuweilen überwacht und müssen die Unterkünfte in der Regel tagsüber verlassen (vgl. Bauer et al. 2020, 26). Zwar sind Wohnungslose dort vor den Witterungsverhältnissen geschützt, doch viele meiden solche Unterkünfte bewusst, weil sie fürchten, ausgeraubt, vergewaltigt oder Opfer anderer Gewalt zu werden (vgl. Bauer et al. 2020, 26f.; Donley/Wright 2012, 295f.). Einige argumentieren, dass solche institutionellen Interventionen die Not der Wohnungslosen eher verschlimmern als lindern (vgl. Smith 2014, 36). Studien verweisen auf identitäts- und verhaltensprägende Einflüsse, die sich im Zwangskontext der Notunterkünfte ergeben (vgl. Güntner/Harner 2021, 237f.). All das deutet auf massive Einschränkungen der Selbstkontrolle hin, was eine Form der Demütigung darstellt.

Das Hilfesystem in seiner gegenwärtigen Form mag Abhilfe mit Blick auf die schlimmsten Auswüchse der Obdach- und Wohnungslosigkeit schaffen. Es ändert aber nichts an der grundlegenden Problematik, nämlich dass den Betroffenen adäquater Wohnraum fehlt (vgl. Bauer et al 2020, 27). Wer obdach- oder wohnungslos ist, hat kaum die Möglichkeit, für sich selbst in den grundlegenden Angelegenheiten des Lebens zu sorgen. Zudem ist die Fähigkeit bedroht, sich selbst als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sehen und anderen gegenüber zu präsentieren. Was die Würde dieser Menschen verletzt, ist nicht nur die Armut selbst, sondern die Missachtung durch die Institutionen und durch andere Menschen. Obdachlose sind nicht nur existenziell in ihrem Personensein bedroht, sondern auch in ihrer Selbstachtung. Was Margalits Theorie in solchen Kontexten so attraktiv macht, ist, dass sie die personale und die soziale Würde gemeinsam denkt.

4.2 Grauzonen der Wohnungsnot

Dass Obdach- und Wohnungslosigkeit einen Zustand darstellt, in dem sich eigene Würde nur unter größten Aufwendungen aufrechterhalten lässt, scheint ohne Zweifel. Doch auch durch weniger deprivierte Wohnverhältnisse wird die Würde der Menschen angegriffen (vgl. Güntner/Harner 2021, 238). Die Wohnungsforscherin Saskia Gränitz beschreibt mit dem Begriff „Grauzonen der Wohnungslosigkeit“ Wohnverhältnisse, die nicht den Ansprüchen an ein gesichertes und als normal wahrgenommenes Wohnen entsprechen, aber auch noch nicht in den rechtlich bestimmten Bereich der Wohnungslosigkeit fallen. Die Grauzone ist nicht trennscharf greifbar, denn in ihr konvergieren „subjektive Deutungen ‚schlechten‘ Wohnens“ mit „objektivierbaren Kriterien der Wohnungsnot“ (Gränitz 2022b, 206.). Gränitz schlüsselt sechs Dimensionen auf, anhand derer sich diese Grauzone identifizieren lässt: Ungesichertes, ungenügendes, depriviertes, beengtes oder überbelegtes, pauperisierendes und bedrohtes Wohnen (vgl. ebd.). Anhand dieser Dimensionen lässt sich gut erläutern, warum die Institutionen einer anständigen Gesellschaft, sofern meine Argumentation überzeugend ist, auch weniger extreme Fälle der Wohnungsnot als Obdach- und Wohnungslosigkeit in den Blick nehmen sollten.

Unter ungesicherten Wohnverhältnissen leiden all diejenigen, die ohne Mietvertrag sind oder deren Mietverhältnis nicht dem „Normalmietverhältnis“ entspricht (vgl. ebd. 207f.). Das umfasst neben Wohnungslosen beispielsweise auch inoffizielle Untermieter:innen oder Menschen, die sich von Zwischenmiete zu Zwischenmiete oder von befristetem Mietvertrag zu befristetem Mietvertrag hangeln. In einer solchen Situation lässt sich nur sehr bedingt über die grundlegenden Angelegenheiten des eigenen Lebens entscheiden. In Anbetracht angespannter Mietmärkte leben Betroffene in der ständigen Furcht, potenziell wohnungslos zu werden. Die langfristige Planung einer familiären oder beruflichen Zukunft ist unter solch unsicheren Bedingungen kaum möglich, was die Selbstkontrolle dieser Menschen einschränkt.

Ungenügend ist Wohnraum laut Gränitz, wenn er „Mindeststandards menschenwürdigen Wohnens“ unterschreitet, etwa weil er aus hygienischen oder gesundheitlichen Gründen problematisch ist (vgl. ebd. 208). Hierunter fallen schimmlige und feuchte Wohnungen, aber auch Wohnungen mit mangelhafter Ausstattung, denen etwa Heizungen oder Toiletten fehlen. Wohnraum, der nicht bedürfnisgerecht ist, hat potenziell negative Auswirkungen auf Gesundheit, Wohlbefinden und Lebenschancen (vgl. Güntner/Harner 2021: 238; Rolfe et al 2020: 1f.; Kennedy/Winston 2019: 144). Das Gleiche gilt für die Wohnumgebung, wenn diese beispielsweise übermäßig durch Feinstaub belastet ist. Menschen, denen solche Verhältnisse dauerhaft zugemutet werden, haben gute Gründe, sich als Menschen zweiter Klasse und damit in ihrer Würde verletzt zu sehen, weil ihre Gesundheit vonseiten der Gesellschaft als weniger wichtig erachtet wird als die Gesundheit anderer Menschen.

Eng mit ungenügendem Wohnraum verbunden sind deprivierte Wohnverhältnisse. Diese zeichnen sich einerseits durch eine sozialräumliche schlechte Lage aus. Sie liegen beispielsweise in sehr lauten Gegenden, zum Beispiel direkt an Bahntrassen. Andererseits zeichnen sie sich durch die fehlenden Qualitäten der Nachbarschaft aus (vgl. Gränitz 2022b, 208). Wer nur nach langen Pendelwegen Zugang zu öffentlichen wie privaten Infrastrukturen hat, dem wird die Teilnahme am gesellschaftlichen Wohlstand erschwert. Das Potenzial dieser Menschen, aus benachteiligten Verhältnissen herauszuwachsen, wird durch die mangelhafte Qualität und Unterfinanzierung der vorhandenen Infrastrukturen ganz praktisch unterminiert. Menschen hinterfragen ihren eigenen Wert, wenn dieser ständig durch ihre Lebenssituation in Zweifel gezogen wird. Der mangelnde Zugang zu Infrastrukturen bringt außerdem zum Ausdruck, dass ihre Möglichkeiten der Selbstentfaltung und ihr Wohlergehen nicht so viel wert sind, wie dies bei anderen Menschen der Fall ist. Dies ist eine indirekte Form des Ausschlusses und gibt den Betroffenen gute Gründe, sich als gedemütigt zu erachten.

Haushalte mit geringer Zahlungskraft reduzieren häufig in Anbetracht steigender Preisen ihre Wohnfläche, sei es, weil sie Räume untervermieten oder in kleinere, günstigere Wohnungen ziehen. Eine Folge davon können pauperisierende Wohnverhältnisse sein. Darunter fasst Gränitz Situationen, in denen der Versuch, das bestehende Mietverhältnis zu erhalten, Menschen in die Armut führt. Mit steigenden Mieten sinkt für viele Haushalte das Budget für Nahrungsmittel, Kleidung und andere lebensnotwendigen Güter.17 Mitunter fehlen dann auch die materiellen Voraussetzungen, um sich in einer materialistischen Gesellschaft als Gleiche zu präsentieren. Ist die Mietkostenbelastung dauerhaft zu hoch, ist das Mietverhältnis als solches bedroht, etwa weil Haushalte mehrfach zu spät ihre Miete zahlen (vgl. Gränitz 2022b, 209f.). In solchen Fällen drohen Zwangsräumungen, die direkt in die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit führen können (vgl. Berner et al. 2015). Dies verdeutlicht, dass Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und all die Fälle, die in die „Grauzonen der Wohnungsnot“ fallen, eher ein Kontinuum darstellen, als qualitativ unterschiedliche Fälle und deswegen gemeinsam betrachtet werden sollten. Daraus ergibt sich, dass die Verhinderung von Obdach- und Wohnungslosigkeit ebenso wichtig ist wie die Suche nach Lösungen für akute Obdach- und Wohnungslosigkeit.

Gegen meine These, dass adäquater Wohnraum eine zentrale Voraussetzung zur Aufrechterhaltung von Selbstachtung ist, lassen sich mindestens drei Einwände vorbringen.18 Erstens könnte es sein, dass Menschen, die über adäquaten Wohnraum verfügen, trotzdem nicht als gleichwertig anerkannt werden. Das ficht meine These aber nicht an. Eine Frau, die von systematischem Rassismus betroffen ist, wird offensichtlich nicht als gleichwertiger Mensch anerkannt – auch wenn sie über menschenwürdigen Wohnraum verfügt. Die Versorgung mit adäquatem Wohnraum ist keine hinreichende Bedingung zur Erlangung und Aufrechterhaltung von Selbstachtung, aber eine wichtige Voraussetzung. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass von Rassismus betroffene Menschen auch demütigende Erfahrungen auf dem Wohnungsmarkt machen (vgl. Antidiskriminierungsstelle 2020, 16).

Zweitens könnten obdachlose Menschen von anderen auch als gleichwertig anerkannt werden, ohne über adäquaten Wohnraum zu verfügen. Das ist in der Tat so. Es gibt viele Menschen, die Betroffenen von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit mit großer Empathie begegnen. Allerdings zeigt die Tatsache, dass viele Betroffene ständig herabgewürdigt, bedroht oder gar Opfer von Gewalt werden, dass solche eklatanten Statusunterschiede von anderen als Anlass für grausames Verhalten genommen wird. Vielen Menschen scheint es schwer zu fallen, ein Bewusstsein für die Gleichrangigkeit von Menschen aufrechtzuerhalten, die in materieller Hinsicht besonders benachteiligt sind.19 Dies bezeugt ein stückweit, dass grundlegende, materielle und Statusgleichheit eng verknüpft sind und sich nicht ohne Weiteres trennen lassen.

Drittens ließe sich einwenden, dass die Betroffenen trotz ihrer Situation keinen Grund haben, ihre Selbstachtung aufzugeben. Vielleicht gibt es Obdach- und Wohnungslose, die in der Lage sind, trotz widrigster Umstände ihre Selbstachtung aufrechtzuerhalten. Das erfordert aber einen heroischen Aufwand, zu dem die Mehrheit der Menschen nicht in der Lage ist. Oder anders ausgedrückt: Diese Menschen haben weiter einen Anspruch auf Selbstachtung – aber kaum die Kraft, diese aufrechtzuerhalten. In weniger drastischer Form gilt das auch für Menschen, die in gesundheitsgefährdenden, beengten oder abgehängten Wohnraum leben. Viele, die in solchen Verhältnissen leben, fühlen sich abgehängt und als Bürger:innen zweiter Klasse. Dafür haben sie gute Gründe, weil ihre Gesundheit und ihre Entfaltungsmöglichkeiten weniger wichtig scheinen als die von anderen Menschen.20 Wenn Menschen ständig solche Zurückstellungen erfahren, verinnerlichen sie diese und strahlen diese auch nach außen hin aus. Seine Selbstachtung unter solchen Bedingungen aufrechtzuerhalten, erscheint sehr schwierig. Ein solcher Einwand unterschätzt die Auswirkungen von Wohnverhältnissen auf die Selbstwahrnehmung und auf die Wahrnehmung durch andere und die Relevanz von adäquaten Wohnraum, wenn es darum geht, das eigene Leben in wichtigen Belangen kontrollieren zu können.

5 Anständige Wohnverhältnisse

Ich habe in diesem Artikel freiheitsbasierte Ansätze im Kontext der Wohnungsnot dafür kritisiert, dass ihre praktischen Forderungen entweder zu zurückhaltend sind oder ihre normative Grundlegung zu dünn ist, um aus ihr konkrete, nicht zu minimale Wohnansprüche im Sinne einer Suffizienzschwelle für menschenwürdige Wohnverhältnisse ableiten zu können. Mit Margalit können wir argumentieren, dass Wohnverhältnisse demütigend sind, wenn sie geeignet sind, Menschen einen indirekten Ausschluss aus der Menschheitsgemeinschaft zu kommunizieren oder ihre Selbstkontrolle zu unterminieren, weil wir sie daran hindern ihr Leben in grundlegenden Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Die materiellen und sozialen Voraussetzungen hierfür sind von der jeweiligen Gesellschaft abhängig. Hangeln sich Menschen von befristetem Mietvertrag zu befristetem Mietvertrag in einer Gesellschaft, in der unbefristete Mietverträge die Norm sind, so haben sie einen Grund, sich als gedemütigt zu erachten, weil sie ihr Leben in grundlegenden Angelegenheiten unter diesen Umständen kaum kontrollieren können. Gilt es in einer Gesellschaft als normal, dass jeder Mensch in einer Altbauwohnung lebt, so hätte auch der Philosophieprofessor aus München einen Grund sich als gedemütigt zu erachten, weil ihm die Mittel fehlen, sich als Gleicher zu präsentieren. Wie die freiheitsbasierten Ansätze geht der Selbstachtungsansatz von Margalit von minimalen normativen Voraussetzungen aus. Während er über den Begriff der Selbstkontrolle Kapazitäten hat, viele Aspekte zu berücksichtigen, die auch freiheitsbasierte Ansätze in den Blick nehmen, kann er darüber hinaus auch die relationalen Dimensionen erfassen, die bei Fragen des Wohnens stets mitschwingen – und damit Stigmatisierungs- und Demütigungserfahrungen, die in der Lebenswelt von Wohnungsnot betroffenen Menschen eine große Rolle spielen. Das liegt daran, dass Margalit die Rechtswürde und die soziale Würde zusammendenkt.

Wohnraum erfüllt eine Reihe von Funktionen für ein gelingendes Leben: Er bietet Menschen Schutz, verortet sie und erlaubt ihnen damit den Zugriff auf gesellschaftliche und private Infrastrukturen sowie gesellschaftliche Teilhabe. Schließlich kommunizieren Wohnort und -situation einen gewissen gesellschaftlichen Status. Wenn der Selbstachtungsansatz überzeugend ist, sollte Wohnraum mit Blick auf diese drei Dimensionen sowie die Qualität der Nachbarschaften, in denen er sich befindet, nicht so ungleich verteilt sein, dass die Verhältnisse demütigend sind. In Anbetracht der großen Rolle, die Wohnverhältnisse für das Leben von Menschen spielen, sollte Wohnraum in einer anständigen Gesellschaft so verteilt werden, dass jeder sich selbst achten und sich in der Öffentlichkeit in Würde zeigen kann. Dies verlangt das Demütigungsverbot. Das Selbstwertgefühl der Bürger:innen, in Abgrenzung zu ihrer Selbstachtung, darf durchaus durch Statusunterschiede verletzt werden. Die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Wohnsituationen dürfen aber nicht demütigend sein.

Dies würde wohlhabende Gesellschaften, die sich als anständige verstehen, verpflichten, Obdach- und Wohnungslose nur kurzfristig in Notunterkünften unterzubringen, und sie langfristig in die Lage zu versetzen, adäquaten Wohnraum zu beziehen – auch wenn das neben dem bloßen Wohnraum zusätzliche Unterstützungsleistungen mit Blick auf den Haushalt, dem Umgang mit Behörden oder geordnete Finanzen verlangt. Zudem würde dies ausschließen, Menschen in gesundheitsgefährdenden oder beengten Wohnraum leben zu lassen.

Geht es darum, das Problem der Wohnungslosigkeit und dessen Dringlichkeit zu erfassen sowie darum, konkrete Wohnansprüche normativ zu begründen, ist eine auf Margalits Begriffen der Selbstachtung und Demütigung aufbauende Sozialtheorie leistungsfähiger als freiheitsbasierte Ansätze, habe ich argumentiert. Es geht hierbei nicht um konkrete Umsetzungsfragen, sondern um eine normative Grundlegung. Wenn eine Gesellschaft die Sicherung der Würde ihrer Bürger:innen und ihrer eigenen Anständigkeit zum Ziel hat, so müssen ihre Institutionen das Problem der Wohnungsnot angehen – von Extremformen wie Obdachlosigkeit bis hinein in ihre ‚Grauzonen‘.

Literatur


  1. Ich danke Tobias Blase, Elisabetta Gobbo, Martina Herrmann, Christian Neuhäuser, Lea Prix, Dick Timmer sowie zwei anonymen Gutachter:innen für Kritik und wertvolle Anregungen zu vorherigen Versionen dieses Artikels.↩︎

  2. Die Bundesregierung hat 2022 erstmals einen Bericht zur Obdach- und Wohnungslosigkeit veröffentlicht. Sie geht für das Jahr 2022 von 262.600 Wohnungslosen und 37.400 Obdachlosen aus (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2022, 10). Die Bundesstatistik erfasst allerdings nur institutionell untergebrachte Wohnungslose. Einen aktuellen Überblick über den sozialwissenschaftlichen Forschungstand bietet das ‚Handbuch Wohnungs- und Obdachlosigkeit‘ (Borstel et al. 2023) sowie ‚The Routledge Handbook of Homelessness‘ (Bretherton/Pleace 2023).↩︎

  3. Die Wohnungslosenhilfe unterscheidet drei Formen der Wohnungsnotfälle, nämlich Menschen, die wohnungslos sind, von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben. Wohnungslos ist, „wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum (oder Wohneigentum) verfügt“ (vgl. BAG W o.J.). Die Definition der BAG W ist in der Forschung weithin anerkannt (vgl. Gillich 2020, 4; Steckelberg 2023, 3). Im Folgenden spreche ich von Obdachlosigkeit, wenn es um Menschen geht, die im öffentlichen Raum leben und von Wohnungslosigkeit, wenn es um Menschen geht, die Unterschlupf in einer Einrichtung oder bei Bekannten gefunden haben, da sich die jeweiligen Lebenslagen unterscheiden. In der Realität wechseln die Betroffenen – je nach Jahreszeit und persönlicher Situation – häufig zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit (vgl. Steckelberg 2023, 4).↩︎

  4. Nel Noddings (2002a, 2002b) und Bart van Leeuwen (2018) vertreten einen Fürsorgeansatz und stellen unbefriedigte Grundbedürfnisse von Wohnungslosen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Allerdings befassen sich diese Ansätze weniger mit den gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen, die Wohnungslosigkeit ermöglichen.↩︎

  5. Ich spreche von einer wesentlichen und nicht von einer notwendigen Grundlage, um deutlich zu machen, dass Fälle konstruierbar sind, in denen Menschen auch ohne adäquaten Wohnraum ein Leben in Würde führen können. Fragen der nichtidealen Gerechtigkeitstheorie sind oft wenig eindeutig. Es gibt beispielsweise Belege dafür, dass Kinder, die in überbelegtem Wohnraum aufwachsen, in ihren Bildungschancen und ihrer psychosozialen Entwicklung beeinträchtigt werden (vgl. Saegert/Evans 2003, 576f.). Allerdings kann der psychische Stress, den Kinder erleben, die in einer solchen Umgebung aufwachsen, durch eine fürsorgliche Erziehung gemildert werden (vgl. Saegert/Evans 2000). Aufgrund ihrer benachteiligten Wohnverhältnisse sind die betroffenen Kinder, ganz unabhängig vom Verhalten ihrer Eltern, einem gewissen Risiko ausgesetzt. Wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass bestimmte Wohnverhältnisse die Selbstachtung von Menschen verletzen, ergibt sich daraus noch keine notwendige Bedingung – aber doch ein Problem, das eine nicht-ideale Gerechtigkeitstheorie ernst nehmen sollte.↩︎

  6. Vgl. hierfür Neuhäuser (2013).↩︎

  7. Siehe mit Blick auf Waldron die wichtige Einschränkung von Wells (2022, 3f.). Sie betont zurecht, dass Waldron mit der Einschränkung der negativen Freiheit vor allem gegen Libertäre argumentiert und keineswegs sagt, dass die Einschränkung der negativen Freiheit das einzige Übel an der Situation der Obdachlosigkeit ist (vgl. Waldron 2009, 180).↩︎

  8. Hierbei geht es ihm nicht darum, dass jede:r Wohneigentum im Sinne eines Eigenheims erlangt, sondern einen sicheren Zugang zu Wohnraum. Auch die Rechte, die sich aus einem Mietvertrag ergeben, stellen in diesem Sinne Eigentumsrechte dar.↩︎

  9. Ich folge Neuhäuser (2010, 358, Fn. 21) darin, die ersten beiden paradigmatischen Formen der Demütigung, Menschen unmenschlich zu behandeln und sie aus der Menschheitsgemeinschaft auszuschließen, zusammenzufassen, da sie auf der Sinnebene sehr ähnlich sind.↩︎

  10. Der Soziologe Zygmunt Bauman behauptet zum Beispiel, die Wohnsituation am infrastrukturell schlecht ausgebauten Stadtrand inmitten anderer abgehängter Menschen gebe den Menschen dort ständig zu verstehen, dass ihrem Leben und ihren Ansprüchen auf Teilhabe aus gesellschaftlicher Perspektive nicht viel Bedeutung beigemessen werde, dass sie „menschliche[r] Abfall“ (Bauman 2005, 59) seien.↩︎

  11. Sozialräumliche Ungleichheiten gehen einher mit unterschiedlichen Statuszuschreibungen (vgl. Hauge/Kolstad 2007, 278; Paton 2013, 88f.). Bewohner:innen unterschiedlich betuchter Nachbarschaften haben durchaus eine Vorstellung davon, wie andere über ihre Wohnsituation und ihre Nachbarschaft sprechen (vgl. Bond et al. 2012, 12; Clark/Kearns 2012, 934).↩︎

  12. „Wenn Würde die sich im Verhalten niederschlagende Selbstachtung eines Menschen ist, dann können jene Menschen, die keine Selbstachtung haben, Würde nur heucheln. Würde ist aber keine Darbietung, sondern die Verkörperung beziehungsweise das tatsächliche Abbild von Selbstachtung.“ (Margalit 2018, 62f.).↩︎

  13. Die negative und die positive Rechtfertigung schließen einander nicht aus, vielmehr impliziert die negative Rechtfertigung die positive. Beide stellen eher verschiedene Blickwinkel auf das Phänomen dar (vgl. Margalit 2018, 121).↩︎

  14. In einer Befragung gaben 90 Prozent der Obdachlosen an, bedrohliche Situationen im vergangenen halben Jahr erlebt zu haben. Bei Menschen, die in Notunterkünften unterkamen, waren es 70 Prozent (vgl. Bauer et al. 2020, 26). Seit 1989 sind mindestens 288 wohnungslose Menschen in Deutschland durch Nichtwohnungslose getötet worden und 351 durch ebenfalls wohnungslose Menschen (vgl. B W 2024). In der Presse ist immer wieder zu lesen, dass Obdachlose angezündet werden. Alltäglicher sind weniger drastische, aber ebenfalls herabwürdigende Gewalterfahrungen: „‚Und dann auch noch äh, was ich AUCH zwei drei mal erlebt habe. Dass Menschen, die eine vorgefasste Meinung haben (.) äh gedacht haben, jetzt müssten sie mir was Schlechtes tun. (...) Zum Beispiel, äh indem du auf einer Bank liegst und die kommen vorbei und geben dir einen Knuff (Box-Geste) oder dir einen auf den Kopf.‘ (Peter, Absatz 245)“ (zit. n. Gurr et al. 2022, 415).↩︎

  15. Dies mag auf einige zutreffen, aber längst nicht auf alle. Es gibt unterschiedliche Gruppen von Obdachlosen mit unterschiedlichen Problemen. In den Debatten wird oft nicht hinreichend zwischen diesen Gruppen unterschieden (vgl. van Leeuwen/Merry 2018, 2).↩︎

  16. In einer qualitativen Studie beleuchtet Juliet Watson (2011) den Zusammenhang von ‚Survival Sex‘, also den Tausch von Sex gegen materielle Unterstützung. In dieser schildert eine obdachlose Frau ihre Erfahrung: „And I just felt like the dirtiest little rat and he just felt so sorry for me and the guys were just like, ‘yeah good on you’. And I’m like, ‘I just offered myself, my own body, me, to someone I don’t even know, for what? Just to stay in some squat’. It was so degrading . . . That’s like the worst thing I think I’ve ever had to do“ (Watson 2011: 646). Saskia Gränitz hat im Rahmen einer Studie einen Wohnungslosen interviewt, der u.a. bei einem älteren Mann gegen die Erbringung von Pflegeaufgaben unterkommen konnte: „‘dass es natürlich sich so entwickelt hat, hätt’ ich jetzt nich’ gedacht, war eigentlich auch nich’ so der Plan, aber ich hab’ ihn auch ganz g- ganz gern gemocht‘. Denn der Mitbewohner ‚hatte auch teilweise ja- gegen Ende so Probleme mit Inkontinenz, was ziemlich also be-scheuert war, also das ist schon, war für mich auch teilweise nich’ ganz so einfach, weil ich halt den Scheiß dann wegputzen musste, so mehr oder weniger, weil er einfach nich’ konnte‘“ (Gränitz 2022a: 56).↩︎

  17. 1,5 Millionen Haushalte wenden 50 Prozent oder mehr ihres Haushaltseinkommens für die Miete auf, weitere 1,6 Millionen Haushalte zwischen 40 und 50 Prozent. Gerade armen Haushalten fällt es häufig schwer, mit dem verbleibenden Einkommen grundlegende Güter zu erwerben (vgl. Destatis 2023).↩︎

  18. Ich danke einer anonymen Gutachter:in für den Hinweis auf die ersten beiden dieser möglichen Einwände.↩︎

  19. Viele Täter:innen sind sicherlich bloße Sadist:innen. In einer Überblicksstudie verweist Daniela Pollich darauf, dass die Motive von nicht-wohnungslosen Täter:innen wenig untersucht sind, sich aber eine Bandbreite feststellen lässt von der bloßen Lust an Gewalt hin zu Hass auf bestimmte Personengruppen (vgl. Pollich 2017: 70–74).↩︎

  20. In einer empirischen Studie fanden Clark/Kearns (2012) eine starke Korrelation zwischen subjektiven Wohlbefinden und der Wohnsituation, die sie anhand von vier Kriterien bestimmt haben: Das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes und die Meinung anderer darüber (sozialer Status); das Gefühl, Kontrolle über das eigene Zuhause zu haben; das Zuhause als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit; und der Beitrag zum eigenen Selbstwertgefühl.↩︎