Zur Ontologie ‘authentischer‘ Geschlechtsidentität im Diskurs um die geschlechts-
affirmative Behandlung Minderjähriger

On the Ontology of 'Authentic' Gender Identity in the Discourse on Gender-Affirmative Treatment of Minors

THOMAS SCHIRMER, BERLIN

Zusammenfassung: Die Arbeit untersucht die ontologischen Prämissen des medizin(eth)ischen Diskurses um das geschlechtsaffirmative Behandlungsprotokoll Minderjähriger. Es wird vorgeschlagen, ‘Geschlechtsidentität‘ als Verschränkung der Ebenen ‘geschlechtsidentisches Selbstverständnis’ – die Selbstverortung im Geschlechtersystem - und ‘geschlechtsidentische Persistenz‘ – die Art und Weise, wie Geschlecht durch die Zeit persistiert - zu rekonstruieren. Die derzeit hegemonialen Diskurspositionen unterstellen eine physische Essenz geschlechtsidentischer Persistenz. Daher betrachten sie die langfristige Stabilität des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses als notwendige Bedingung für Authentizität. Eine plausible Alternative für die Essenz geschlechtsidentischer Persistenz, die nicht notwendig eine solche langfristige Stabilität impliziert, ist in Marya Schechtmans ‘Narrative Self-Constitution View‘ zu finden.

Schlüsselwörter: Geschlechtsinkongruenz, geschlechtsaffirmative Behandlung, Geschlechtsidentität; personale Identität, Authentizität

Abstract: This paper examines the ontological premises of the medical(ethical) discourse on the gender-affirmative treatment protocol for minors. It proposes reconstructing ‘gender identity’ as an interweaving of the levels of gender-related self-conception’—the self-positioning within the gender system—and ‘gender-related persistence’—the way in which gender persists over time. The currently hegemonic discursive positions assume a physical essence of gender-related persistence and therefore consider the long-term stability of gender-related self-conception as a necessary condition for authenticity. A plausible alternative for the essence of gender-related persistence, which does not necessarily imply such long-term stability, can be found in Marya Schechtman’s ‘Narrative Self-Constitution View’.

Keywords: Gender Incongruence, Gender-Affirmative Treatment, Gender Identity, Personal Identity, Authenticity

I Einführung

Die neue Leitlinie der deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur „Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ hat bereits vor ihrer endgültigen Veröffentlichung im Jahr 2025 für Kontroversen gesorgt.1 Umstritten ist der ‘geschlechtsaffirmative‘ Ansatz der Leitlinienkommission:

„Beim so genannten gender affirmative model, das auch verschiedene psychosoziale Interventionen mit einschließt, wird empfohlen, ein Kind in dem von ihm selbst bekundeten geschlechtlichen Zugehörigkeitsempfinden zu validieren und ihm mit einer bejahenden Haltung zu begegnen“ (DGJKP 2025: 120)

Ein normatives Dilemma in der Behandlung trans*- identer2 Minderjähriger ergibt sich aus der Frage, ob es Minderjährigen mit geschlechtsinkongruentem Erleben im Rahmen des geschlechtsaffirmativen Modells ermöglicht werden soll, die Entwicklung ihres Geschlechts-Körpers mit hormoneller Behandlung zu stoppen („Pubertätsblockade“) und später durch teils irreversible somatische Behandlungsmaßnahmen weiter zu verändern. Trans*-idente Minderjährige empfinden die Entwicklung von aversiv erlebten Geschlechtsmerkmalen häufig als traumatisch. Die physischen wie psychischen Konsequenzen dieses Prozesses müssen ebenso ernst genommen werden, wie die befürchteten negativen Folgen einer körpermodifizierenden Behandlung. Der Deutsche Ethikrat wendet in seiner Ad-Hoc-Empfehlung3 folgerichtig das Prinzip des ‚Nicht-Schadens‘4 auch auf die Unterlassung von Behandlung an. Eine besondere Schwierigkeit besteht in der Behandlungsplanung darin, dass Entscheidungen für oder gegen somatische Behandlungsmaßnahmen bei jugendlichen Trans*-Personen oft zu einem Zeitpunkt getroffen werden müssen, zu dem Identität und Persönlichkeit noch von jugendtypischen Entwicklungsprozessen geprägt werden. Der Ethikrat versteht es deshalb als Herausforderung, „Minderjährige auf dem Weg zu einer eigenen geschlechtlichen Identität zu unterstützen und zugleich vor – teils irreversiblen – Schäden zu bewahren“ (Deutscher Ethikrat 2020:3).

Die Zahl behandlungssuchender Minderjähriger ist in den letzten zwei Jahrzehnten in unvorhergesehenem Ausmaß angestiegen.5 Mögliche Ursachen werden intensiv diskutiert.6 Teile der Diskursparteien glauben, die „Ansteckung“ durch soziale Medien als mögliches Agens identifiziert zu haben7 und befürchten, eine zu frühe (nicht zwangsläufig auf somatische Maßnahmen beschränkte) Affirmation stabilisiere Minderjährige in einer nicht authentischen, gegen ihre wahre Geschlechtsidentität gerichteten Entwicklung.8 Die zunehmende Öffentlichkeit junger Erwachsener, die ihren Transitionsprozess rückgängig machen (‘De-Transition‘), beschäftigt Behandelnde und Politik, und die Frage, ob geschlechtsinkongruente Selbstbeschreibungen Minderjähriger authentisch sein können, bestimmt den Diskurs um das geschlechtsaffirmative Behandlungsmodell.9 In der Entscheidung über körpermodifizierende Behandlungsmaßnahmen besitzt die prognostizierte Persistenz des geschlechtsinkongruenten Erlebens sowohl diagnostisch als auch in der Risiko-Nutzen-Bewertung zentrale Bedeutung. Die These „Nur die langfristig gleichbleibende Ausrichtung der Geschlechtsidentität kann als authentisch gelten“ impliziert eine Hierarchie in der Glaubhaftigkeit trans*-identer Selbstbeschreibungen, die zu normativ schwerwiegenden Konsequenzen führt. Die Grundidee meiner Arbeit ist es, das Thema in die zeitgenössische Philosophie des Geistes einzubetten und den analytischen Diskurs um das Wesen personaler Identität10 auf die Frage der Authentizität von Geschlechtsidentität zu übertragen. Dadurch werde ich die „Gleichausrichtungsthese“ in drei Schritten widerlegen:

Im ersten Schritt analysiere ich das konflikthafte Verhältnis der neuzeitlichen Ideale ‚Normalität‘ und ‚Authentizität‘ bezogen auf den geschlechtsaffirmativen Behandlungsansatz. Berechtigt eine als authentisch erlebte Selbstverwirklichung dazu, die normalistisch verstandene menschliche Biologie zu verändern? Zur Auflösung des Dilemmas wird im medizin(eth)ischen Diskurs Geschlechtsinkongruenz entweder als „unauthentisch“ invalidiert (‚Entwicklungspsychopathologische Perspektive‘- EPP) oder aber naturalistisch normalisiert (‚Normvariantenperspektive‘- NVP) (§II).11

Im zweiten Schritt widerlege ich die Annahme, Authentizität erfordere die Selbsterkenntnis über eine notwendig naturhafte Essenz des eigenen Geschlechts. Dafür definiere ich ‚Geschlechtsidentität‘ zunächst als den Teil ‚personaler Identität‘, der sich auf Fragen des Geschlechts bezieht und rekonstruiere dann den Begriff als Verschränkung der Bedeutungsebenen ‚geschlechtsidentisches Selbstverständnis‘ (Wie verorte ich mich im Geschlechtersystem?) und ‚geschlechtsidentische Persistenz‘ (Wie persistiert mein Geschlecht durch meine Lebenszeit?). Diese Differenzierung ermöglicht mir schließlich eine kritische Analyse der Prämissen, auf denen die ontologischen Positionen von EPP und NVP aufbauen. Beide Perspektiven behaupten die Abhängigkeit eines mentalen Phänomens von Persistenzbedingungen physischer Natur. Im analytischen Diskurs um „personale Identität“ wird genau diese Vorstellung in Frage gestellt. (§III)

Im dritten Schritt argumentiere ich, dass Marya Schechtmans Narrative Self-Constitution View (NSCV) eine plausiblere Antwort auf das Problem der Essenz geschlechtsidentischer Persistenz bietet. Schechtmans narratives Modell ermöglicht es, Veränderungen des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses als Ergebnis eines dynamischen, lebenszeitlichen Narrationsprozesses zu verstehen. Dem empirischen Fakt der Diversität geschlechtsidentischer Selbstverortung würde somit Rechnung getragen, ohne die Authentizität der Narration trans*- identer Personen zu kompromittieren. (§IV)

II Invalidieren oder Naturalisieren? Entwicklungspsychopathologische Perspektive (EPP) vs. Normvariantenperspektive (NVP)

Im Zentrum des Konflikts um das geschlechtsaffirmative Behandlungsmodell Minderjähriger steht die scheinbare Unvereinbarkeit der zeitgenössischen Ideale Normalität und Authentizität.

Das Ideal der ‚Normalität‘ hat als fundamentales Ordnungsprinzip der Moderne den Vorteil, dass „vermeintlich interpretationsfrei – auf eine Norm verwiesen werden kann, die nicht vom Menschen gemacht ist, sondern die faktisch, genauerhin statistisch und damit objektiviert, empirisch und deskribierbar vorliegt“ (Wildfeuer 2007: 331). Vereinfacht gesagt gilt als normal, was statistisch nicht zu weit vom Durchschnittswert der Gesamtpopulation abweicht. Das Ideal der ‘Normalität‘ gründet auf und versichert sich in der epistemologischen Hegemonie der Naturwissenschaften, welche die Welt auf der Basis von Messung und Typisierung beschreiben. Jürgen Link argumentiert jedoch, dass Normalität gerade nicht einfach beobachtet, sondern aktiv im Dispositiv des „Normalismus“ produziert werde.12 Neben die ursprünglich deskriptiv-statistisch verstandene Bedeutung des Begriffs Normalität ist darüber hinaus im Alltagsdiskurs ein zweiter, vorrangig normativ beurteilend verstandener Aspekt getreten: Sätzen wie „Das ist total normal!“ wohnt eine (meist affirmative) Wertung inne, die sich auf das Gewöhnliche, Erwartbare, Funktionale und Konsensuelle des Verhaltens der „normalen“ Mehrheit bezieht, welche sich gegen das Andere und Abweichende, das Abnormale und Pathologische abgrenzt.13

Gleichzeitig gilt in der Moderne das Ideal der ‘Authentizität‘ als Leitmotiv des ‘guten Lebens‘. Charles Taylor stellt kritisch fest, der Begriff werde neuzeitlich im Sinne eines „im Kontakt-Seins“ mit der eigenen inneren Stimme verstanden. Habe historisch diese Innerlichkeit Menschen mit ihrem Gott verbunden oder der Wahrnehmung moralischer Intuitionen gedient, so werde sie seit Herder und der Romantik als Treue an sich selbst und als Gegensatz zum gesellschaftlichen Konformitätsdruck rekonstruiert. Authentizität erfordere in ihrer neuzeitlichen Interpretation ein Erforschen der eigenen Originalität, die es zu artikulieren und zur Grundlage des persönlichen Handelns zu machen gelte.14 Nicht nur soll die authentische Person aber ihr Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen, Idealen oder Überzeugungen gestalten. Authentizität erfordert vielmehr auch, dass jene ausdrücken, wer die Person wahrhaftig ist.15 Das Ideal eines authentischen Lebens als “the individual’s ability to realize her uniqueness in the conduct of her life” (Ferrara 2007: 26) zu verstehen, erfordert damit auch, die Diversität menschlicher Identitäten als normativen Wert anzuerkennen.16 Chancengleichheit in der Realisierung der eigenen Identität gilt als ein Grundrecht in liberalen Demokratien.

Für trans*-idente Personen verkörpert sich der Konflikt zwischen Normalismus und Authentizität sehr konkret in der Frage, ob authentische Selbstverwirklichung die Berechtigung verleiht, durch hormonelle und chirurgische Behandlung die normalistisch verstandenen Grenzen menschlicher Natur zu überschreiten. Im medizin(eth)ischen Diskurs wird auf zwei Strategien zur Beantwortung der Frage fokussiert17:

1) Invalidierung: Dem geschlechtsinkongruenten Erleben wird die Authentizität und damit die autoritative Hoheit abgesprochen.

2) Naturalisierung: Das geschlechtsinkongruente Erleben wird jenseits von statistischen Wahrscheinlichkeiten normalisiert und damit seine Authentizität anderweitig objektivierbar verstanden.

In Abhängigkeit von der Strategie werden Transitionsprozesse damit im Framework (sexual)medizinischer Terminologie mehrheitlich entweder als (1) Maskierung oder (2) Demaskierung einer natürlich gegebenen Geschlechtsidentität aufgefasst.18

Aus Perspektive (1) - im Folgenden ‘entwicklungspsychopathologische Perspektive‘ (EPP) - gilt nur die Kongruenz der erstpersönlichen Äußerungen geschlechtlicher Identität zum natalen Geschlechts-Körper als wirklich authentisch. Durch die drittpersönliche19 Objektivierbarkeit derartiger Authentizität muss die medizinische Entscheidungsfindung nicht auf Selbstaussagen gestützt werden, sondern kann sich grundsätzlich am Ziel „natürlicher“ Kongruenz zwischen Geschlechtsidentität und natalem Geschlechtskörper orientieren. Trans*-identen Minderjährigen wird aus der EPP häufig unterstellt, einem Hype zu folgen.20 Der Wunsch nach Körpermodifikation wird als Ausdruck einer (psycho-)pathologischen Entwicklung interpretiert, in deren Kontext die „Betroffenen“ ihre psychischen Probleme durch die Maskerade des eigentlichen Geschlechts (durch einen physischen „Quick Fix“21) bewältigen wollen.22 Aus der EPP heraus wird argumentiert, dass geschlechtsidentische Selbstverortungen von Minderjährigen schon deswegen nicht „authentisch“ sein können, weil sich die Identität menschlicher Personen erst in der Adoleszenz endgültig ausforme. Daher müsse verhindert werden, dass Minderjährige, die über Geschlechtsinkongruenz berichten, durch frühe Affirmation von der Identifikation mit ihrem natalen Geschlechts-Körper abgehalten werden und/oder dass sie eine vorzeitige körpermodifizierende Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt ihres Lebens „bereuen“ (sic.).23 Die Indikation zu körpermodifizierenden Maßnahmen bestünde also nur bei jenen Personen, bei denen sich die psychopathologische Entwicklung nicht durch andere Behandlungsformen aufhalten lässt. Die körperverändernde Behandlung gilt als ultima ratio, um zukünftiges Leid zu mindern. Durch die Bezugnahme auf biologische „Normalität“ ist die EPP in der Indikationsstellung anfällig für einen naturalistischen Fehlschluss. Selbst wenn die Übereinstimmung der Geschlechtsidentität mit dem natalen Geschlechtskörper in einer statistischen oder biologischen Perspektive als „normal“ betrachtet wird, folgt nicht automatisch, dass diese Übereinstimmung normativ als Entwicklungsziel zu bevorzugen oder authentischer ist. Die Vorstellung, dass eine „natürliche“ Geschlechtsentwicklung für Minderjährige mit geschlechtsinkongruentem Erleben „gesünder“ sei, führt in der EPP meist zur ausgeprägten Betonung der Risiken einer körpermodifizierenden Behandlung.

Aus Perspektive (2) - im Folgenden ‘Normvariantenperspektive‘ (NVP) - wird Geschlechtsidentität zumeist als determiniertes Empfinden einer Geschlechtszugehörigkeit verstanden. Eine Kongruenz zum natalen Geschlechtskörper ist für die Authentizität der Geschlechtsidentität nicht notwendig: in einigen Fällen der Normvarianz wird die „wahre“ Geschlechtsidentität durch den „falschen“ Geschlechtskörper maskiert und kann nur durch eine Transition offenbart werden. Geschlechtsinkongruenz gilt in der NVP häufig als biologisch fundiertes „Schicksal“.24 Obwohl laut Florence Ashley „the view of gender as given“ von vielen Proponenten des geschlechtsaffirmativen Behandlungsmodells explizit zurückgewiesen werde25, dominiert das Verständnis des „born this way“26 die Argumen-tation von Seiten der NVP. Es betont die Unbeeinflussbarkeit authentisch geschlechtsinkongruenten Erlebens durch äußere Einflussnahme oder erstpersönliche Willensbildung und hat entscheidend zum Empowerment der gesamten LGBTQA+ Bewegung im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung beigetragen. In der Logik von NVP müssen geschlechtsinkongruente Minderjährige mit Beginn der Pubertät durch die Zugänglichkeit zu einer Pubertätsblockade vor der Entwicklung eines (Geschlechts-)Körpers bewahrt werden, den sie als sich nicht zugehörig empfinden, um so schweren psychischen und physischen Schaden von ihnen abzuwenden.27 Das Fehlen einer drittpersönlich objektivierbaren Grundlage der Indikation führt dazu, dass der genderaffirmative Ansatz dem Verdacht experimenteller Willkür ausgesetzt wird. Auch aus der NVP heraus gelten nicht zwangsläufig alle Äußerungen geschlechtsinkongruenten Selbsterlebens in gleicher Weise als Ausdruck eines authentischen Selbstwissens. Geschlechtsinkongruenz im Rahmen eines unterstellten „Rapid onset“ Typus der Geschlechtsdysphorie28 wird nicht selten im Sinne einer Selbsttäuschung aufgefasst, welche die eigentliche Geschlechtsidentität verkennt.29 Der naturalistische Fehlschluss in NVP erscheint lediglich subtiler, weil tendenziell unklar bleibt, in welcher Weise geschlechtsidentische Normvarianten überhaupt biologisch begründet sein sollen und welche epistemologischen Faktoren daher Authentizität bestimmen.

In EPP und in NVP wird zur Indikationsstellung für körpermodifizierende Behandlung neben sprachlichen Feinheiten in der geschlechtsinkongruenten Selbstbeschreibung („Ich bin…“ vs. „Ich wäre gerne…“) und dem Ausschluss einer psychischen Erkrankung als Ursache der geäußerten Geschlechtsinkongruenz30 vor allem die Persistenz des geschlechtsinkongruenten Erlebens herangezogen. Die Verpflichtung zur Fürsorge gebietet, dass Behandelnde die langfristige Zufriedenheit der Behandelten mit den transitionsbezogenen körperlichen Veränderungen wahrscheinlich machen wollen. Nur bei erwarteten „Persistern“, d.h. jenen Personen mit prospektiv langfristigem Bestehen des geschlechtsinkongruenten Erlebens, scheint damit die Indikation zu körpermodifizierender Behandlung gegeben. Während die langfristige Persistenz geschlechtsinkongruenter Selbstbeschreibung allerdings in EPP als Ausdruck des Schweregrads der Störung gilt, signalisiert sie in NVP die Authentizität der inkongruenten Geschlechtsidentität.

Zusammenfassend dreht sich der Konflikt zwischen EPP und NVP um die Gültigkeit der folgenden Kongruenzthese: Eine Aussage über die eigene Geschlechtsidentität ist nur dann authentisch, wenn sie mit dem natürlich gegebenen (binär zu kategorisierenden) Geschlechtskörper übereinstimmt.

Während sich EPP und NVP in ihrer normativen Bewertung des geschlechtsaffirmativen Behandlungsansatzes unterscheiden, sind sie sich einig, dass Persistenz – also die Beständigkeit der Geschlechtsidentität über die Zeit – die Grundlage für deren Authentizität bildet. Ihr Unterschied liegt lediglich darin, ob nur geschlechtskongruente oder auch geschlechtsinkongruente Persistenz als authentisch gelten kann. Beide Perspektiven setzen dabei voraus, dass das Geschlecht eine biologische Essenz besitzt – sei es in Form des natalen Geschlechtskörpers (EPP) oder einer biologisch verankerten geschlechtlichen Prädisposition (NVP). Diese Annahme wirft jedoch die grundlegende ontologische Frage nach der Essenz von ‚Geschlecht‘ auf. Um dieser Frage nachzugehen, ist es sinnvoll, den Diskurs zum Wesen der Geschlechtsidentität in den breiteren Diskurs um die Essenz personaler Identität einzubetten. Indem ich im Folgenden Geschlechtsidentität als Teil der personalen Identität rekonstruiere und eine Differenzierung zwischen den Ebenen des ‚geschlechtsidentischen Selbstverständnisses‘ und der ‚geschlechtsidentischen Persistenz‘ vornehme, zeige ich, dass die Argumentationen von EPP und NVP auf ontologisch problematischen Prämissen beruhen. Diese Analyse wird einen alternativen Zugang zur Frage der Authentizität geschlechtsidentischer Selbstbeschreibungen eröffnen.

III Persistenz und die Ontologie „authentischer“ Geschlechtsidentität

Die Polarisierung des gegenwärtigen Diskurses zeigt sich schon darin, dass bereits die Definitionen der auf Geschlechtsidentität bezogenen Termini notorisch umstritten sind. Um den Begriff der Geschlechtsidentität analytisch möglichst neutral zu definieren, bietet sich ein Rückgriff auf die Konzeption personaler Identität an. Theoretisch kann Geschlechtsidentität a) als Teil-Aspekt übergeordneter personaler Identität, b) als eine Identität „sui generis“ oder aber c) als ein mit personaler Identität völlig unverbundenes Phänomen verstanden werden. Ich werde für meine Argumentation pragmatisch auf den Standard des gegenwärtigen Diskurses zurückgreifen: Praktisch wird sowohl in psychologischen Konzeptionen als auch im anthropologischen Diskurs zur personalen Identität Geschlechtsidentität ganz selbstverständlich als Teil-Aspekt der personalen Identität verstanden. Auf der entwicklungspsychologischen Seite zählen Akhtar und Samuel „gender“ neben „realistic body image, subjective self-sameness, consistent attitudes, temporality” sowie „authenticity, and ethnicity” (Akhtar & Samuel 1996: 254) zu den zentralen Variablen einer kohäsiven Identität.31 In umgekehrter Richtung beziehen sich am medizin(eth)ischen Diskurs Beteiligte in ihren Theorien zur Entwicklung von Geschlechtsidentität häufig auf psychoanalytische entwicklungspsychologische Modelle. Auch sie verbinden beide Konzeptionen, indem sie Geschlechtsidentität als Teil der personalen Identität auffassen.32 Aus philosophischer Sicht wiederum fragt Michael Quante, ob wir nach Geschlechtsumwandlung (sic.) „noch von ein und derselben Person sprechen“ (Quante 2012: 10) können und auch Eric Olson versteht „being a man and living in Yorkshire“ als zur personalen Identität gehörend (Olson, 2023). Die hierarchische Verknüpfung der beiden Konzepte – Geschlechtsidentität als Teil personaler Identität – scheint also nicht nur intuitiv plausibel, sondern ist auch in psychologischen und anthropologischen Theorien fest verankert. Daher schlage ich vor, Geschlechtsidentität wie folgt zu definieren: Geschlechtsidentität ist der Teil personaler Identität, der sich auf Fragen des Geschlechts bezieht.

Das Konzept personaler Identität wiederum wird von Michael Quante analysiert als eine „Verschränkung verschiedener Aspekte, denen man am besten mit jeweils eigenen Fragestellungen und Lösungsvorschlägen nachgehen sollte“ (Quante 2012: 6f). Zwei der drei vom Autor analysierten Explikationsebenen personaler Identität haben Bedeutung für das Verständnis der diskursiven Verwirrung um das Wesen von Geschlechtsidentität und sollen im Folgenden daher etwas genauer umrissen werden:

1. Personale Identität als ‘biografisches Selbstverständnis‘: Die Ebene des biografischen Selbstverständnisses bezieht sich auf die Tatsache, dass das „Selbst“ sich selber (er-)kennen und verwirklichen muss, um ein „Selbst“ zu sein. „‘Identität‘ in diesem Sinne ist ... ein evaluatives oder normatives Konzept, an dem sich einzelne Individuen oder soziale Gruppen orientieren, für dessen Beibehaltung sie eintreten oder dessen Realisierung sie anstreben“ (Quante 2012: 11). Die Grundfragen des biografischen Selbstverständnisses lauten: „Wer bin ich?“ und „Wer will ich werden?“. Quante analysiert, diese Lesart des Begriffs sei in der Persönlichkeitspsychologie und den Gesellschaftswissenschaften weit verbreitet. Sie habe aber mit der (in der analytischen Philosophie zentralen) logischen Dimension des numerischen Ein-und Dasselbe-Seins von „Identität nur ganz indirekt zu tun“(ebd.).

2. Personale Identität im Sinne ‘diachroner Einheit‘: Im analytischen Diskurs um die diachrone Einheit menschlicher Existenz steht dagegen die Frage im Zentrum, wie ein menschliches Wesen über die Zeit hinweg ein und dasselbe Individuum bleibt. Wie bleibt das „Selbst“ sich selber gleich? John Locke versuchte in seinem einflussreichen Werk An Essay Concerning Human Understanding33, das Konzept der personalen Identität von umstrittenen theologischen oder metaphysischen Annahmen zu lösen. Sein Vorschlag, die diachrone Einheit der Person als eine Relation zu analysieren, die dem Bewusstsein innewohnt und an keine Substanz, wie etwa eine unsterbliche Seele, gebunden ist, traf schon zu seinen Lebzeiten auf erheblichen Widerspruch.34 Nach Ausschluss des kartesischen Leib-Seele-Dualismus richtete sich der Fokus auf Theorien physischer Kontinuität oder psychologischer Kontinuität als plausibelsten Kandidaten für diachrone Einheit.35 Theorien physischer Kontinuität gehen davon aus, dass die diachrone Einheit eines menschlichen Wesens durch die Persistenz des Körpers, des lebenden Organismus oder des Gehirns gewährleistet wird. Diese Perspektive ermöglicht zwar eine objektive (Re-)Identifikation des menschlichen Wesens über die gesamte Lebensspanne hinweg, führt jedoch zu erheblichen Problemen in der Erklärung des sogenannten „egoistic concern“: Die bloße Fortexistenz eines physischen Körpers kann nicht ohne Weiteres erklären, warum ein Individuum sich mit seinem zukünftigen oder vergangenen Selbst in einer um sich selber sorgenden Weise verbunden fühlen sollte. “How could the continuity of meat serve to explain a relationship of minds?” (Shoemaker 2016: 305). Alternative Erklärungen für diachrone Einheit bieten die Theorien psychologischer Kontinuität, welche die diachrone Identität durch die fortlaufende kausale Verknüpfung mentaler Zustände bestimmt sehen. In dieser Tradition stehend, definiert Parfit psychologische Kontinuität als eine Kette von ausreichend großer psychologischer Verbundenheit, innerhalb derer mentale Phänomene wie Erinnerungen, Charakterzüge und Bewusstsein kontinuierlich fortgeführt werden.36 Diese Perspektive bietet eine überzeugendere Erklärung für den egoistic concern, führt ontologisch jedoch ebenfalls zu problematischen Konsequenzen: Wenn persönliche Identität ausschließlich an psychologische Faktoren gebunden ist, impliziert dies, dass menschliche Personen nie ein Fötus gewesen wären oder im Falle schwerer Demenz möglicherweise aufhören würden zu existieren.

Die Frage der Essenz diachroner Identität hat erheblichen Einfluss auf Authentizität auf der Ebene des biografischen Selbstverständnisses. Wenn diachrone Identität durch physische Kontinuität gesichert würde, dürfte das biografische Selbstverständnis nicht von objektiven physischen Kontinuitätsbedingungen abweichen, um als authentisch gelten zu können.

Ohne dass hier auf den Diskurs um physische oder psychologische Kontinuität als Essenz diachroner Einheit weiter eingegangen werden kann, besteht mein Vorschlag darin, Quantes Modell der Differenzierung personaler Identität auf den Begriff der Geschlechtsidentität zu übertragen. Das bedeutet, „Geschlechtsidentität“ nicht einfach als Teil des „biografischen Selbstverständnis“ aufzufassen (wie dies üblicherweise geschieht), sondern Geschlechtsidentität analog zu personaler Identität in eine Ebene des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses und eine Ebene der geschlechtsidentischen Persistenz zu differenzieren:

1. ‘geschlechtsidentisches Selbstverständnis‘: Geschlechtsidentität auf dieser Ebene trifft eine Aussage zur (Nicht-)Verortung im gesellschaftlich etablierten System der Geschlechterordnung. Möglichkeiten sind beispielsweise: nonbinär, genderfluid, weiblich oder männlich.

2. ‘geschlechtsidentische Persistenz‘: Wie persistiert Geschlechtsidentität essenziell durch die Zeit? Die wichtigsten der möglichen Kandidaten sind der Geschlechtskörper, ein auf Prädisposition beruhender geschlechtsidentischer Instinkt, das Ergebnis neuropsychologischer Persönlichkeitsentwicklung, ein erstpersönliches Narrativ oder (nicht naturalistisch) eine Seele.

Dieses Zwei-Ebenen-Modell der Geschlechtsidentität kann jetzt auf die durch NVP und EPP verwendeten Definitionen zentraler Termini des Diskurses angewendet werden. Dadurch wird es möglich zu zeigen, dass die Frage nach der Authentizität der Geschlechtsinkongruenz auf zwei analytisch distinkten Interpretationsebenen gleichzeitig verhandelt wird:

Definitionen der Geschlechtsidentität auf Seiten der NVP fokussieren zumeist auf Authentizität auf der Ebene des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses. Beispielsweise versteht Sauer im „LSBTIQ-Lexikon“ der Bundeszentrale für politische Bildung Geschlechtsidentität als „das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht“ (Sauer 2018). Sauers Definition impliziert, dass Geschlechtsidentität als Ausdruck einer authentischen inneren Stimme drittpersönlich nicht falsifizierbar und analytisch mit dem „wirklichen“ Geschlecht einer Person gleichzusetzen sei. Plausibilität gewinnt diese Annahme durch die unterstellte ‚epistemische Asymmetrie‘37 zwischen erstpersönlicher und drittpersönlicher Perspektive in der Selbsterkenntnis: unserer Alltagsintuition zufolge verfügt die sich selbst eine Identität zuschreibende Person über eine „spezifische Zugangsform“ zur Selbstkenntnis, welche dadurch „vielfach als nicht-inferentiell, grundlos und unbezweifelbar“ (Michel & Newen 2007: 166) erscheint. Durch die sexualmedizinische Etablierung einer psychischen Dimension von Geschlecht wird die autoritative Hoheit der Bestimmung geschlechtlicher Identität somit prima facie auf das Individuum übertragen, welches sich diese Identität selbst zuschreibt. Die innere Stimme besitzt einen Vorrang vor biologischen Zuschreibungskriterien. Die Gültigkeit der epistemischen Asymmetrie gilt jedoch nicht gleichermaßen für alle mentalen Inhalte. Selbst vorausgesetzt, dass wir uns selbst am besten kennen, so ist es doch eindeutig möglich, dass wir uns trotz intensiver Selbsterkundung in unseren Selbstzuschreibungen täuschen.

Selbstaussagen zu Phänomenen wie Schmerz oder Hunger besitzen eine starke epistemische Autorität, weil ihr Wahrheitsgehalt durch das bloße Erleben gesichert ist.38 Es ist unmöglich, eine Person zu fragen, ob sie sicher ist, Schmerzen zu haben, ohne ihr eine vorsätzliche Lüge zu unterstellen. Andere Selbstaussagen betreffen dagegen mentale Phänomene mit propositionalem oder intentionalem Charakter, etwa „Ich habe Muskelkater!“ oder „Ich will etwas essen“, da sie eine Spezifizierung und potenzielle Kausalität enthalten. Sie sind anfällig für Selbsttäuschungen. Selbst-Interpretationen schließlich („Ich habe Muskelkater, weil ich zu viel trainiert habe!“) sind noch anfälliger für Irrtümer und besitzen daher nur geringe epistemische Autorität.39 Auf die Frage geschlechtlicher Identität übertragen bedeutet dies, dass die Selbst-Attribution „ein Mann sein“ epistemisch nicht ohne weiteres mit Selbstaussagen der Form „Schmerzen haben“ gleichgesetzt werden kann, auch wenn die vage Forderung des „tief empfunden“ in Sauers Definition dies andeutet.40

Sauers Definition führt zu noch größeren Problemen bezüglich der Authentizität auf der Ebene geschlechtsidentischer Persistenz. Gefühle sind ausgesprochen wandelbar und diese Wandelbarkeit steht im Widerspruch zur Vorstellung, dass der Begriff der „Identität“ sich auf die persistente Essenz eines Phänomens bezieht. Die Essenz einer derart gefühlten geschlechtsidentischen Persistenz erscheint aus der NVP zumeist von vager biologischer Natur. Wilhelm Preuss betont etwa, dass „es ein primäres Geschlechtsidentitätsempfinden gibt, das von einem Menschenkind mitgebracht wird und das dann die Selbst- und Objektrepräsentanzen und die Objektbeziehungen erst organisiert“ (Preuss 2021: 109, Hervorhebung im Original). Auch Eric Romer, Vorsitzender der AWMF Leitlinienkommission betont, Geschlechtsidentität sei „tief in uns angelegt (...) Wenn es um eine Transidentität geht, dann ist dagegen kein Kraut gewachsen. Dann wird sie sich ihren Weg irgendwie bahnen müssen“ (Romer in: Führer 2021). Beide Erklärungen lassen offen, wie konkret Geschlechtsidentität mitgebracht wird oder sich ihren Weg bahnt. Zepf et al. kritisieren die durch NVP unterstellte „Annahme der eindeutigen Existenz einer grundsätzlichen, naturhaften ‚identitären Disposition‘ bzw. einer ‚primär ubiquitären Identität‘“ (Zepf et al 2024: 7) als unwissenschaftliche Naturalisierung. Weder neurobiologische noch genetische Korrelate sprechen derzeit ausreichend für eine solche Hypothese. Die Behauptung „Jeder, der sich als Mann fühlt, ist ein Mann“ stellt damit ohne die Darstellung eines weiterführenden, ontologisch plausiblen Begründungszusammenhanges - wie Zepf et al. (2024) anmerken – zunächst einmal einen Zirkelschluss dar.

Die EPP kann mit dem natalen Geschlechtskörper dagegen scheinbar eine plausible Lösung für das Problem der Authentizität auf der Ebene geschlechtsidentischer Persistenz präsentieren. Der biologische Phänotyp scheint ein verlässlicher Garant für das essenzielle „Sich-Selber-Gleichen“ durch die Zeit, welches der Begriff der Identität impliziert. Entgegen dem ersten Eindruck führt die Orientierung am Geschlechtskörper aber zu erheblichen ontologischen Schwierigkeiten, da der „Körper“ sich auf unterschiedlichen Ebenen realisiert – genetisch, hormonell, anatomisch – und diese nicht immer kohärent im Sinne der durch EPP unterstellten Binarität menschlicher Geschlechtlichkeit zusammenwirken.41 Zepf et al. sehen beispielsweise in ihrer Argumentation die Binarität menschlicher Geschlechtlichkeit auf der Ebene der Keimzellproduktion belegt, „da es nur zwei verschiedene und exklusiv unterschiedliche Arten von menschlichen Keimzellen bzw. Gameten gibt“ (Zepf et al 2024: 24). Gleichzeitig wird aber üblicherweise durch Vertretende von EPP die normativ gewünschte Kongruenz der Geschlechtsidentität zum Geschlechtskörper nicht an einer Kenntnis über die eigene Fähigkeit zur Produktion von Gameten, sondern an den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen fest gemacht. Welche Ebene ist für geschlechtsidentische Persistenz also die entscheidende?

Vor allem bleibt im Rahmen eines körperfokussierten Verständnisses geschlechtsidentischer Persistenz jedoch offen, wie die Verknüpfung zur Ebene des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses geschaffen werden kann, ohne gleichzeitig mentale Ereignisse zu biologisch determinierten Epiphänomenen zu erklären. Zepf et al. definieren „Frau“ als „erwachsene, weibliche Person“ (Zepf et al. 2024: 6) und folgern, eine „geburtsgeschlechtlich männliche Person“ könne „gar nicht wissen wie es ist, eine Frau bzw. ein Mädchen zu sein (da sie nie eine Frau bzw. ein Mädchen gewesen ist)“ (ebd.). Sie übersehen, dass sich ihre Definition von „Frau“ auf den begriffslogischen Gebrauch des Wortes bezieht, während ihre weiterführende Argumentation „Frau“ ontologisch als „Besitzerin eines weiblichen Geschlechtskörpers“ versteht. Die Authentizität auf der Ebene des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses wird an eine biologische Erfahrung geknüpft – was gleichfalls in einen Zirkelschluss führt. Die „geburtsgeschlechtlich männliche“ trans*idente Person könnte Zepf et al. zustimmen, nicht zu wissen, wie es ist, eine Vagina und einen XX-Chromosomensatz zu haben. Sie kann aber fragen, welche Relevanz eine physische Tatsache für die Authentizität eines psychischen Phänomens besitzt. Anders gesagt: wenn Geschlechtsidentität nur das korrekte Bewusstsein der eigenen Biologie und die damit verbundenen Erfahrungen beinhalten würde - welche Relevanz hätte die Konzeption überhaupt? Die Behauptung „zwischen dem biologischen Geschlecht und einer wie immer auch gearteten … ‚Geschlechtsidentität‘ bzw. ‚Gender‘ besteht rein empirisch eine nahezu perfekte mathematische Korrelation“ (Zepf et al. 2024: 8) stellt eine normalistisch statistische Naturalisierung eines komplexen psychologischen Phänomens dar. Logisch könnte nur eine hundertprozentige Übereinstimmung zwischen (binär gedachtem) biologischem Geschlecht und (ebenfalls binär gedachter) Geschlechtsidentität beweisen, dass geschlechtsidentische Persistenz durch den Geschlechtskörper garantiert wird und das geschlechtsidentische Selbstverständnis entsprechend determiniert wird. Aus der Unterstellung, die normgerechte Entwicklung des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses müsse sich an der statistisch wahrscheinlichen Kongruenz zum Geschlechtskörper orientieren42, kann nur unter der offenen Zuhilfenahme der Prämisse der gewünschten Orientierung an der statistischen „Normalität“ eine normative Konsequenz für die in Frage stehenden körpermodifizierenden Behandlungsmaßnahmen abgeleitet werden.

Der Konflikt zwischen EPP und NVP dreht sich auf der Ebene geschlechtsidentischer Persistenz um die Frage, von welcher Art die ihr zugrunde liegende biologische Essenz ist. Ist es eine tief verankerte, instinktive Neigung (NVP) oder der natale Geschlechtskörper, welcher das geschlechtsidentische Selbstverständnis als ihm nachgeordnetes Phänomen (EPP) determiniert? Daraus ergibt sich auf der Ebene des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses wiederum ein Konflikt um die Gültigkeit der epistemischen Asymmetrie: Falls geschlechtsidentische Persistenz durch eine instinktive Neigung gesichert wird, erscheint es plausibler, dass die betroffene Person selbst das beste Wissen darüber hat. Falls geschlechtsidentische Persistenz jedoch am natalen Geschlechtskörper festgemacht wird, so verliert die Behauptung epistemischer Asymmetrie in Fragen der Geschlechtsidentität an Überzeugungskraft. Sowohl EPP als auch NVP stimmen jedoch grundsätzlich darin überein, dass geschlechtsidentische Persistenz biologisch bestimmt ist. Beide Positionen könnten daher die folgende, modifizierte Version der Kongruenz-These akzeptieren:

(P1) Authentizität bedeutet, zu wissen und auszudrücken, wer man wirklich ist.

(P2) Die Authentizität des geschlechtsidentischen Selbstverständnis erfordert dessen Übereinstimmung mit der Essenz geschlechtsidentischer Persistenz.

(P3) Geschlechtsidentische Persistenz ist biologisch bestimmt.

Eine Aussage über das geschlechtsidentische Selbstverständnis ist nur dann authentisch, wenn sie mit der biologisch gegebenen Essenz (binär kategorisierten) geschlechtsidentischer Persistenz übereinstimmt.

Aus dieser veränderten Kongruenz-These leiten EPP und NVP mit zwei weiteren Prämissen gemeinsam die „Gleichausrichtungsthese“ ab:

(P4) Wenn geschlechtsidentische Persistenz über die Zeit hinweg unverändert bleibt, muss auch ein authentisches geschlechtsidentisches Selbstverständnis stabil sein.

(P5) Aufgrund ihrer biologischen Basis ist geschlechtsidentische Persistenz durch Unveränderlichkeit gekennzeichnet.

Ein authentisches geschlechtsidentisches Selbstverständnis muss über die Zeit hinweg stabil bleiben und sich innerhalb des biologischen Zwei-Geschlechter-Systems verorten.

Die Gültigkeit der gemeinsamen Gleichausrichtungsthese von EPP und NVP setzt voraus, dass geschlechtsidentische Persistenz biologisch begründet ist. Diese Annahme wird fragwürdig, wenn der Diskurs über geschlechtsidentische Persistenz als Teil des Diskurses zur diachronen Einheit personaler Identität betrachtet wird. Da Geschlechtsidentität ein Aspekt personaler Identität ist, ähneln die Einwände gegen EPP und NVP den grundsätzlichen Kritikpunkten an physischer Kontinuität als Identitätsrelation. Falls sich aus dem Diskurs zu diachroner Einheit ein alternativer Ansatz ergibt, der Persistenz ohne zwingende Gleichausrichtung erklären kann, wären die Prämissen (P3) und (P4) der Gleichausrichtungsthese widerlegt.

Tatsächlich haben in den letzten drei Jahrzehnten Theorien narrativer Identität große Bedeutung im analytischen Diskurs um personale Identität erlangt. Narrative Ansätze gehen davon aus, dass das „Selbst“ durch die Erzählung einer zusammenhängenden Lebensgeschichte konstituiert wird. Entsprechend sehen sie in der erstpersönlichen Selbstbezugnahme über die Lebensspanne hinweg die Essenz diachroner Einheit. Die wohl einflussreichste Version narrativer Identität, Marya Schechtmans ‚Narrative Self-Constitution View‘ (NSCV)43, soll abschließend als plausible Alternative für die Ontologie geschlechtsidentischer Persistenz vorgeschlagen und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Authentizität geschlechtsidentischer Selbstverortungen analysiert werden.

IV NSCV und Narration als die Essenz ‚geschlechtsidentischer Persistenz‘

Schechtman hat ihre Konzeption des NSCV seit der Erstveröffentlichung 1996 wiederholt erneut aufgegriffen und durch die Verteidigung gegen analytische Einwände beispielsweise Galen Strawsons weiterentwickelt.44 Der zentrale Ansatz ihrer Theorie beruht auf dem Fakt, dass wir, als Personen, “experience and interpret our present experiences not as isolated moments but as part of an ongoing story” (Schechtman 2011: 398). Personale Selbst-Erzählung umfasst für Schechtman dabei nicht einfach nur die Abfolge unserer Lebensereignisse, sondern auch die sinnhafte Erklärung der Zusammenhänge zwischen diesen Ereignissen. Personen müssen sich zwar ihrer Selbst-Erzählung nicht permanent bewusst sein. Sie müssen diese aber, wenn notwendig, reflektieren und ausdrücken können, wodurch ihnen komplexe Fähigkeiten wie Autonomie, moralisches Handeln oder vorausschauendes Denken ermöglicht werden. Die Autorin verlagert den Fokus der diachronen Einheit damit vom Problem der drittpersönlichen ’Re-Identifikation’ zum Problem der erstpersönlichen ‘Charakterisierung’: “a person’s identity (in the sense at issue in the characterization question) is constituted by the content of her selfnarrative, and her traits, actions, and experiences included in it are, by virtue of that inclusion, hers“ (Schechtman 1996: 94, Klammern im Original). Das erstpersönliche Narrativ stellt für Schechtman also gleichzeitig den Inhalt des biografischen Selbstverständnisses und die konstitutive Bedingung diachroner Einheit dar, wodurch das Problem der Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen personaler Identität hinfällig wird.

Geschlechtsidentität kann im Kontext des NSCV als ein komplexes Zusammenspiel aus aktuellen und biografischen narrativen Anteilen des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses begriffen werden, das sich mit anderen Teilen narrativer Selbsterzählung zu einer subjektiv erlebten Identität auf der Ebene des biografischen Selbstverständnisses verbindet. In einer Kultur, welche fortlaufend die geschlechtliche (Selbst-)Verortung erfordert, erlangt die Geschlechtsidentität zentrale Bedeutung für die diachrone Einheit von Personen. Quantes rhetorische Frage, ob wir nach Transitionsprozessen „noch von ein und derselben Person sprechen“ (Quante 2012: 10) können, lässt sich unter Verweis auf narrative Identität einfach beantworten. Da das erstpersönliche Narrativ im NSCV auch die diachrone Einheit sichert, führen inhaltliche Neuausrichtungen des Narrativs nicht notwendig zu einer Unterbrechung personaler Identität - solange die vorherigen Ausrichtungen durch das narrative Subjekt nicht als Teil der lebensgeschichtlichen Narration negiert werden. Schechtman unterscheidet dementsprechend die lebenszeitbezogene narrative Identität der ‘Person‘ von der aktuellen narrativen Identität des ‘Selbst‘. Erstere erkennt rational den biografischen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft an, während letztere eine starke Identifikation mit ausgewählten Teilen des Narrativs erfordert, um die Gegenwart als Teil der eigenen Geschichte zu verstehen.45 Die Autorin verdeutlicht den Unterschied so: „I need not to identify with the self that decided to by a sports car, but if I signed the loan I need to recognize that it is mine to pay…” (Schechtman 2007: 170). Da sich Narrationen über das eigene Selbst also im Laufe des Lebens verändern können, folgt aus der Konstitution geschlechtsidentischer Persistenz im Rahmen des NSCV die Gleichausrichtungsthese nicht notwendig. Veränderungen in der Ausrichtung des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses wären in Schechtmans Framework nicht als Wechsel zwischen nichtauthentischer und authentischer Geschlechtsidentität, sondern als Teil einer einzigen, über die Lebensspanne hinweg entwickelten und individuierten, geschlechtlichen Identität der Person zu interpretieren. Passend zu dem durch Ashley und Wren analysierten „Gender as dynamic“ Ansatz46 kann der NSCV der empirischen Tatsache Rechnung tragen, dass sich das geschlechtsidentische Selbstverständnis mancher Personen im Laufe ihres Lebens (mehrfach) verändert, ohne dass diese Personen als „deluded or duplicitous“ (Overall 2009: 12) angesehen werden müssten. Mari Günther scheint eine solche Konzeption geschlechtsidentischer Persistenz im Sinn zu haben, wenn sie zum Begriff der „Rückumwandlung“ bei De-Transitionsprozessen schreibt: „Kein Mensch kann zweimal in denselben Fluss springen, weder biografisch noch geschlechtsidentisch“ (Günther 2015: 121).

Ein narratives Selbstverständnis impliziert nicht, dass Geschlechtsidentität willkürlich oder frei wählbar ist. Selbst wenn Geschlechtsidentität durch narrative Strukturen geprägt wird, fühlt sie sich für die meisten Personen als unverrückbar an. Das gilt für inkongruente in gleichem Maße wie für kongruente geschlechtsidentische Selbstverortungen. Komplexe Entwicklungsmodelle wie das transaktionale Modell von Sameroff47 legen nahe, dass prädisponierende Faktoren (wie die Art des natalen Geschlechts-Körpers), umweltbezogene Interaktionsprozesse und die bereits durchlaufenen Stadien des individuellen Entwicklungsprozesses auch die Selbstzuschreibung geschlechtlicher Identität bestimmen. Umweltbezogen ist jedes narrative Subjekt an das Masternarrativ48 einer binären und essenziell biologischen Geschlechtlichkeit oder aber eben an die zugänglichen Alternativnarrative geschlechtlicher Identitäten gebunden. Ian Hacking beschreibt die Entstehung von klassifikatorischen Alternativnarrativen durch eine Art narrativer Feedbackschleife, die er „looping effect“ nennt: „There has been recently a fashion of saying that we define ourselves by our biographies, by our own narratives. Well if there are new story lines, there can be new stories“(Hacking 1995: 368). Wenn geschlechtsbezogene Alternativ-Narrative zunehmend gesellschaftliche Anerkennung finden und über soziale Medien leichter zugänglich werden49, bieten sie neue Erklärungsmodelle für gegenwärtiges Erleben ebenso wie für vergangene Erfahrungen. Indem eine Person sich mit einem Alternativnarrativ identifiziert (und sich damit selbst klassifiziert), rekonstruiert sie ihre eigene Biografie im Licht dieser neuen Erzählstruktur. Dadurch erscheint die eigene Identität nicht als eine spätere Entscheidung oder Entwicklung, sondern als eine tief verwurzelte Wahrheit, die nur entdeckt werden musste – eine Erzählweise, die durch das dominierende gesellschaftliche Masternarrativ der authentischen Selbstverwirklichung50 zusätzlich gestärkt wird. Wenn sich eine große Anzahl von Personen zu einer Klassifikationskategorie zuordnet, kommt es laut Hacking zu einer fortschreitenden Evolution von klassifikatorischen Kriterien. Dadurch verändert sich mit der Zeit die klassifikatorische Kategorie selbst (und neue Alternativnarrative entstehen). Der „looping effect“ ist komplett.

Gerade wenn Geschlechtsidentität ein dynamischer narrativer Prozess ist, könnte behauptet werden, dass eine langanhaltende psychotherapeutische Exploration zur Reflexion und möglichen Reinterpretation der trans*-identen Selbstverortung vor körperverändernder Behandlung unerlässlich notwendig ist. Unter pragmatischen Aspekten wäre darauf zu erwidern, dass eine bestehende Dysphorie von trans*-Personen gegenüber ihrem Geschlechtskörper von der Adoleszenz an trotz (vor und bei Transition geforderter) Psychotherapie zumeist unveränderlich fortbesteht und eine körperliche Transition als essenziell für ihr Wohlbefinden betrachtet wird.

Medizin(eth)isch ist zu argumentieren, dass es in der medizinischen Behandlung nicht vorrangig darum geht, eine „objektiv richtige“ Identität festzulegen, sondern gegenwärtiges ebenso wie antizipiertes Leid zu lindern. Minderjährige werden in der Medizin zumeist im Sinne eines adultozentrischen „Developmentalism“ behandelt, also im Sinne „jener Ideologie, der zufolge Kindheit lediglich die Vorstufe eines späteren, eigentlichen Daseins als Erwachsener ist“ (Wiesemann 2014: 165). Claudia Wiesemann problematisiert in diesem Zusammenhang eine strukturell zweifache Entgegensetzung, die typischerweise in der Anwendung von Begriffen wie „Kindeswohl“, „Kindeswille“ oder „Best-Interest“ angelegt ist: Einerseits stehen die aktuellen Wünsche und Bedürfnisse des Kindes häufig im Kontrast zu dem, was Erwachsene aus ihrer Fürsorgeperspektive als „angemessen“ definieren. Andererseits werden diese aktuellen Interessen auch den spekulativ zugeschriebenen Wünschen des künftigen, autonomen Selbst des Kindes gegenübergestellt – eine Zuschreibung, die erneut aus der externen Perspektive von Erwachsenen erfolgt.51 Das gegenwärtige Leid trans*-identer Minderjähriger gerät damit vor dem Risiko des größeren Leids einer nicht selten kathastrophisierend ausgemalten Zukunft möglicherweise in den Hintergrund. Zentrale Referenz paternalistischer Eingriffsrechte ist das von Joel Feinberg formulierte „Recht auf eine offene Zukunft“52, das normativ als Grundlage sowohl elterlicher als auch staatlicher Fürsorgepflichten dient.53 Feinberg geht davon aus, dass möglichst viele zukünftige Handlungsoptionen für das Kind offengehalten werden müssen, bis es autonom entscheiden kann. Pädagogisch motivierte Einschränkungen aktueller Interessen – zum Beispiel im Kontext von Bildung oder Gesundheit - erscheinen unter dieser Prämisse legitim. Gerade im Kontext geschlechtsaffirmativer Maßnahmen gerät die paternalistische Logik Feinbergs jedoch in eine Schieflage: anders als in den genannten Bereichen verfügen trans*- idente Jugendliche hier aufgrund der Subjektivität narrativer Identität bezüglich der Frage, was ihr Bestes ist, möglicherweise über einen epistemischen Vorteil gegenüber Erwachsenen. Dabei bringt jede Entscheidung zur (Nicht-)Behandlung das Risiko mit sich, die „offene Zukunft“ in erheblichem Maße einzuschränken. Wiesemann fragt in Bezug auf Feinbergs Argument berechtigt: „Woran genau bemisst sich die Offenheit der Zukunft für den Einzelnen?“ (Wiesemann 2014: 162).

Dementsprechend wird die Frage zentral, warum im Kontext narrativer Identität ergebnisabhängig einem geschlechtsinkongruenten Narrationsprozess weniger Authentizität zugeschrieben und damit normativer Respekt entgegengebracht werden sollte, als einem geschlechtskongruenten Ergebnis? Vertretende der EPP könnten sich gegen die Authentizität von Geschlechtsinkongruenz im Framework narrativer Identität auf das ‘Realitätsgebot‘ des NSCV berufen: Narrationen müssen in ihren zentralen Punkten mit empirisch erfassbaren Fakten über das Subjekt der Narration übereinstimmen, um soziale Interaktionen nicht durch fehlerhafte Selbstkonstruktionen zu gefährden. Das ‘Embodiment‘ der narrativen Entität unterliegt notwendig diesem Gebot. Muss daher das Narrativ der Geschlechtsinkongruenz als Verstoß gegen das Realitätsgebot gewertet werden? Meine Antwort darauf beruht auf Schechtmans Verständnis des Begriffs ‘Realität‘: das Realitätsgebot verlange, dass “our narratives fit with the basic conception of reality shared by those in our community” (Schechtman 2011: 405). Trans*-Personen leugnen in ihrer Selbstnarration die biologischen Gegebenheiten ihres Geschlechts-Körpers nicht. Gerade die Diskrepanz zwischen ihrem auf der Basis dieses Geschlechts-Körpers bei Geburt zugewiesenen Geschlecht und ihrer Geschlechtsidentität ist ein bedeutender Teil ihres persönlichen Narrativs. Es ist das gesellschaftliche „Masternarrativ“ einer binären und essenziell biologischen Geschlechtlichkeit, dem sich Trans*-Personen mit ihrer Narration widersetzen. Die bloße Existenz des hier analysierten Diskurses beweist aber, dass geschlechtliche Realität in unserer Gesellschaft grundsätzlich auch anders verstanden werden kann. Damit stellt Geschlechtsinkongruenz keine Verletzung des Realitätsgebots im Sinne des NSCV dar.

Die vorgeschlagene Rekonstruktion geschlechtsidentischer Persistenz als narrativ ermöglicht eine Zurückweisung der Gleichausrichtungsthese: Wenn Persistenz nicht biologisch fixiert ist, braucht es auch keine konstante Ausrichtung des geschlechtsidentischen Selbstverständnisses für Authentizität. Die Stärke dieser Argumentation hängt davon ab, ob narrative Identität als plausible Alternative für die Essenz personaler Identität anerkannt wird und meine Auslegung des Realitätsgebotes in NSCV Gültigkeit besitzt.

V Zusammenfassung

Die Authentizität geschlechtlicher Selbstverortung muss nicht an eine stabile, biologisch begründete Gleichausrichtung geschlechtlicher Identität gebunden sein. Geschlechtliche Identität kann als Ergebnis eines lebenszeitlichen Narrationsprozesses verstanden werden. Diese Position stärkt den epistemischen Status erstpersonaler Perspektiven – auch bei Minderjährigen – und verschiebt den Fokus von biologischer Festschreibung hin zu narrativer Kohärenz und Selbstverantwortung, ohne dabei jedoch den epistemischen Vorteil des erstpersönlichen Zugangs zu einem Absolutum zu erheben.

Aus dieser Erkenntnis resultierend die Frage der ‘Authentizität‘ insgesamt aus der Indikationsstellung zu körpermodifizierenden Behandlungsmaßnahmen auszuklammern, wie Ashley vorschlägt54, würde ein fundamentales Umdenken im Verständnis der Prinzipien ‘Respekt vor Autonomie‘ und ‘Fürsorge‘ erfordern.55 Ferraras Deutung von Authentizität als reflektierte, praktische Verpflichtung des Selbst, die eigenen Entscheidungen und Versprechen zu verwirklichen, würde einen anderen Weg eröffnen. Authentizität gründet für Ferrara nicht auf der Selbsterkenntnis eines statischen Wesenskerns, sondern entsteht durch fortlaufende Selbstverpflichtung und gegenseitige soziale Anerkennung.56 Wie ein derart verändertes Verständnis von Authentizität mit einem narrativen Modell geschlechtsidentischer Persistenz verbunden und nutzbar gemacht werden kann, ohne dass trans*-idente Minderjährige in eine Beweisnot bezüglich ihres geschlechtsidentischen Selbstverständnis geraten, ist eine vielversprechende Frage für weiterführende Analysen. Ein Ansatz, welcher sich dem biologistischen Essentialismus der dominierenden gegenwärtigen Diskurspositionen entzieht, kann Spielräume für ein Verständnis von geschlechtsinkongruenter Selbstverortung jenseits des Konflikts zwischen Pathologisierung und biologischer Normalisierung eröffnen.

Danksagung: Der Autor dankt den begutachtenden Personen für die hilfreichen Hinweise zu früheren Versionen dieser Arbeit. Besonders möchte ich mich bei Marya Schechtman, Carl Friedrich Gethmann, Nils-Frederic Wagner und Kenny Cupers für die wertvollen Diskussionen und ihre Unterstützung bedanken.

Literatur


  1. vgl. Lenzen- Schulte 2024; Zepf et al. 2024↩︎

  2. Ich verwende in dieser Arbeit „trans*-ident“ als inklusiven Terminus für alle Formen geschlechtsidentischer Diversität, die potenziell zum Wunsch nach Veränderungen des Geschlechts-Körpers führen können. „Geschlechtsinkongruenz“ beschreibt dagegen das konkrete Phänomen des Auseinanderfallens von geschlechtlicher Selbstverortung und natalem Geschlechtskörper.↩︎

  3. vgl. Deutscher Ethikrat 2020↩︎

  4. vgl. Beauchamp und Childress 2019↩︎

  5. Vgl. DGKJP 2025↩︎

  6. vgl. Romer & Lempp 2022; DGKJP 2025↩︎

  7. vgl. Lenzen-Schulte 2022↩︎

  8. Ob bereits psychosoziale oder erst somatische (Behandlungs-)Maßnahmen normativer Prüfung zu unterziehen sind, ist ebenfalls umstritten.↩︎

  9. vgl. Wren 2019, Ashley 2019↩︎

  10. Vgl. Olson 2023↩︎

  11. Es ist mir wichtig klarzustellen, dass ich im Folgenden EPP und NVP als die zwei widerstreitenden „Extrempole“ des hier analysierten Diskurses verstehe. Die damit verbundene exemplarische Zuspitzung zielt nicht auf die faire oder gar umfassende Wiedergabe der individuellen Mischung aus ontologischen Hypothesen und normativen Überzeugungen einzelner Stakeholder*innen ab, welche sich ohnehin selten ganz klar auf eine der „Seiten“ positionieren werden. Im besten Fall können meine Überlegungen manche Behandelnde zur Reflexion ihres individuellen „Glaubenssystems“ anregen.↩︎

  12. Link 1997↩︎

  13. vgl. Canguilhem 1991; Link 1997; Wildfeuer 2007↩︎

  14. Taylor 1991: 29ff↩︎

  15. Varga, S.; Guignon, C. 2023↩︎

  16. Taylor 1991↩︎

  17. Eine dritte Option besteht darin, die binäre Konzeption menschlicher Geschlechtsbiologie als konstruiert zu verstehen (vgl. Ainsworth 2015, Voss 2010). Die alternative Konzeption einer Vielzahl biologischer Geschlechter des Menschen stellt die Behauptung einer „natürlichen“ Kongruenz zwischen biologischer Geschlechtlichkeit und binärer geschlechtlicher Selbstverortung generell in Frage. Sie findet jedoch im hier analysierten Diskurs allenfalls am Rande Beachtung.↩︎

  18. Zur „Masken“-Metaphorik von Transitionsprozessen vgl. Overall 2009↩︎

  19. “We know of conscious experiences in two essentially different ways: through direct inner acquaintance and through access from the outside, i.e., the third person perspective” (Metzinger 1995: 215).↩︎

  20. z.B. Richter-Unruh in Hummel 2019, prononciert kritisch auch Louis: „Trans ist in“ (Louis 2020)↩︎

  21. zur Analyse des Mythos vom ‚quick fix‘ vgl. Baker 2019↩︎

  22. Exemplarisch Korte et al. 2008↩︎

  23. Paradigmatisch hierfür Plogstieß, U. et al (2020)↩︎

  24. so z.B. Romer in Führer (2021) „Transidentität ist Schicksal“↩︎

  25. Ashley 2019: 225; Ich bedanke mich für diesen Hinweis im Rahmen des Begutachtungsprozesses und die damit verbundenen Literaturhinweise. Ich beziehe mich im Folgenden ausdrücklich auf den „gender as given“- Ansatz innerhalb NVP. Vertretende der NVP, die sich eher im Kontext einer Konzeption von “gender as dynamic” (ebd.) verorten, mögen meine folgende Argumentation als Affirmation ihres Standpunktes verstehen.↩︎

  26. vgl. Wuest (2023)↩︎

  27. vgl. Sonnemoser, M. (2020)↩︎

  28. vgl. Littman (2019)↩︎

  29. vgl. etwa Preuss 2021↩︎

  30. vgl. Romer/ Lempp (2022) z.B.im Hinblick auf Autismus-Spektrum-Störungen↩︎

  31. Unklar bleibt in dieser Konzeption, wie „gender“, „authenticity“ und „temporality“ zusammenhängen, wobei der Verdacht eines Kategorienfehlers nahe liegt.↩︎

  32. vgl. etwa Haid- Stecher 2020↩︎

  33. vgl.Locke 1975↩︎

  34. vgl. Quante 2012↩︎

  35. vgl. Wagner 2013: 15f.↩︎

  36. vgl. Parfit 1984↩︎

  37. vgl. Metzinger 1995↩︎

  38. vgl. Wright 1998↩︎

  39. ebd., Choifer (2018) unterscheidet ganz ähnlich in „non-reflective“ und „reflective“ Varianten erstpersönlicher Erfahrungen↩︎

  40. Bettcher (2009) argumentiert daher, dass die erstpersönliche Perspektive geschlechtlicher Identität weniger durch einen epistemischen Vorteil als vielmehr durch eine ethische Autorität konstituiert wird.↩︎

  41. vgl. Voss 2010↩︎

  42. z.B. Korte et al.2008; Zepf et al. 2024; Cretella 2016↩︎

  43. vgl. Schechtman 1996↩︎

  44. vgl. Schechtman 2007; Schechtman 2011↩︎

  45. vgl. Schechtman 2007↩︎

  46. vgl. Ashley 2019; Wren 2019↩︎

  47. vgl. Sameroff 2009↩︎

  48. Im Gegensatz zu persönlichen Narrativen sind Masternarrative gesellschaftlich verbreitete und kulturell hegemoniale Erzählungen, die Individuen bewusst oder unbewusst internalisieren oder ablehnen können, vgl. McLean & Syed 2016↩︎

  49. vgl. Hammack & Manago 2024↩︎

  50. vgl. McLean & Syed 2016; Hammack & Manago 2024↩︎

  51. vgl. Wiesemann 2014↩︎

  52. vgl. Feinberg 1992;↩︎

  53. vgl. beispielsweise Jorgensen et.al.2024↩︎

  54. vgl. Ashley 2019↩︎

  55. vgl. Beauchamp & Childress 2019↩︎

  56. Vgl. Ferrara 2007↩︎