Anspruchsvolle Beispiele für eine
sozial-ökologische Verantwortungsethik

Demanding examples for socio-ecological responsibility ethics

SEBASTIAN A. HÖPFL, FREIBURG

Zusammenfassung: Die jüngere Debatte über Beispiele und Exempel in der Ethik fokussiert sich weitgehend auf herausragende Subjekte als Vorbilder für moralisch gutes Handeln. Ich richte zunächst einen kritischen Blick auf diese Tendenz, moralische Helden- und Heiligenfiguren zu zeichnen. Für meinen alternativen Vorschlag zum Nachdenken über exemplarische Verantwortungsbeziehungen stelle ich eine dialogische Interpretation von Hans Jonas‘ Beschreibung der Eltern-Kind-Beziehung als „Urbild aller Verantwortung“ (Jonas 2015, 252) vor. Diese stellt sich die Eltern-Kind-Beziehung nicht als schematisches Urbild, sondern mit Hannah Arendt als exemplarisches Beispiel für eine Verantwortung im Sprechen und Handeln vor. Um der erneuten Reduktion dieses Beispiels auf ein überzeichnetes Elternvorbild vorzubeugen, wird Arendts Praxis des zwischenmenschlichen Sprechens und Handelns durch Emmanuel Levinas‘ Beschreibung der alltäglichen ethischen Beziehung mit einem anderen Menschen ergänzt. In dieser dialogischen Interpretation erscheint erzieherische Verantwortung als antwortendes Handeln auf die anspruchsvolle Initiative des Kindes, um die gemeinsame terrestrische Atmosphäre für ein gutes Zusammenleben in sozialer wie ökologischer Hinsicht vorzubereiten. Von Levinas werden außerdem weitere strukturell exemplarische Beispiele aufgegriffen, die als Inspiration für eine kritisch-intersektionale Sammlung typischer Beispiele von Verantwortungspraktiken dienen können. Abschließend werden zwei aktuelle öffentliche Beispiele als konkrete Ansätze für eine solche Sammlung skizziert.

Schlagwörter: Verantwortung, Ethik, Dialog, Zwischenmenschliches, Intersektionalität

Abstract: The recent debate on examples and exemplars in ethics has largely focused on outstanding subjects as role models for morally good behavior. I first take a critical look at this tendency to portray moral heroes and saints. For my alternative proposal for thinking about exemplary relationships of responsibility, I present a dialogical interpretation of Hans Jonas' description of the parent-child relationship as the “archetype of all responsibility” (Jonas 2015, 252). This interpretation does not imagine the parent-child relationship as a schematic archetype, but with Hannah Arendt as an exemplar of responsibility in speaking and acting. In order to prevent further reduction of this example to an overdrawn parental role model, Arendt's practice of interpersonal speech and action is supplemented by Emmanuel Levinas' description of the everyday ethical relationship with another person. In this dialogical interpretation, educational responsibility appears as responding to the demanding initiative of the child in order to prepare the common terrestrial atmosphere for a good life together in social and ecological terms. Levinas also provides further structural examples that can serve as inspiration for a critical-intersectional collection of typical examples for responsibility practices. At the end of the paper, two recent public examples are being sketched as a concrete approach to this collection.

Keywords: responsibility, ethics, dialogue, interpersonality, intersectionality

Ethische Beispiele ohne Helden und Heilige?

Exemplarität und die Orientierung an Beispielen spielen in Debatten der praktischen Philosophie zunehmend eine bedeutende Rolle. Dabei ist es auffällig, dass sowohl in den klassischen Positionen, als auch in vielen der jüngeren Veröffentlichungen exemplarische Beispiele vornehmlich als Helden- oder Heiligenbilder verstanden werden. Hierfür seien selbst drei exemplarische Beispiele genannt. Linda Zagzebski macht besonders deutlich, dass es ihr beim Thema der Exemplarität v.a. um solche solitären Helden- und Heiligenfiguren geht:

„In every era and in every culture there have been supremely admirable persons who show us the upper reaches of human capability, and in doing so, inspire us to expect more from ourselves. These are the people I am calling exemplars” (Zagzebski 2017, 1).

Alessandro Ferrara wiederum expliziert diesen Fokus nicht in derselben Weise, orientiert sich aber mit den von Arendt direkt übernommenen Beispielen in dieselbe Richtung: “Our examples—Achilles, Saint Francis, Jesus of Nazareth” (Ferrara 2008, 61). Auch hier sind ausschließlich solche Beispiele behandelt, die aus heutiger Perspektive eindeutig als Helden- oder Heiligenfiguren erscheinen. Aber selbst in den Untersuchungen, die sich kritisch mit dieser Perspektive auseinandersetzen, wird der Fokus meist nicht verändert, sondern nur invertiert und auf moralische Anti-Helden gerichtet. Dies wird etwa von Alfred Archer und Benjamin Matheson vorgeführt:

“This case highlights an ethical puzzle: Polanski has acted wrongly, yet he has also made many excellent contributions to the arts. In light of his wrongdoing, should you still honour and admire him? Or should you instead blame and shun him? What exactly should your response to Polanski be?”(Archer und Matheson 2021, 1).

Statt mich diesem Forschungsfokus auf herausragende Einzelne anzuschließen, möchte ich eine Fokusverschiebung vorschlagen. Meine im Titel angekündigten ‚anspruchsvollen Beispiele‘ sind weniger Vorbilder, deren Nachahmung aufgrund herausragender Eigenschaften oder Fähigkeiten besonders anspruchsvoll wäre. Vielmehr symbolisieren sie exemplarisch den zwischenmenschlichen Anspruch, Verantwortung für das gemeinsame Zusammenleben zu übernehmen. Sie umfassen also keine einzelnen souveränen Handlungsakteure, sondern dialogisch-interaktive Praktiken, in denen eine anspruchshafte Initiative von Anderen ausgeht, die ein verantwortliches Sprechen und Handeln einfordern. Handelnde Verantwortung erscheint darin als Unterstützung, Zuspruch oder Kooperation, statt als souveräne Tat von Einzelnen. Es dreht sich um Beispiele, die den ethischen Anspruch erheben und plausibilieren, dass und wie wir uns im Sinne sozial-ökologischer Verantwortung für ein gutes Zusammenleben auf unserem gemeinsamen Planeten einsetzen sollen und können.

Ich entwickle diese Perspektive nachfolgend nicht als kritische Analyse der Orientierung an herausragenden Einzelnen, sondern als alternative Synthese verantwortungsethischer Ansätze von Hans Jonas, Hannah Arendt und Emmanuel Levinas. Jonas‘ Beispiel der Eltern-Kind-Verantwortung wird im gedanklichen Dialog mit Arendt und Levinas so interpretiert, dass die Arbeit daran sich selbst als exemplarische, praktisch-philosophische Kooperation gegenüber dieser exemplarischen Anspruchshaftigkeit darstellt. Nachdem so die Beziehung zwischen Erziehenden und Kindern als ein erstes Beispiel sozial-ökologischer Verantwortung herausgestellt ist, wird das sozialwissenschaftliche Konzept der Intersektionalität zur Strukturierung einer Sammlung weiterer anspruchsvoller Beispiele für sozial-ökologische Verantwortungspraktiken vorgeschlagen. Abschließend werden zwei konkrete öffentliche Beispiele als Ansatz zu dieser kritisch-intersektionalen Sammlung diskutiert.

Hans Jonas‘ „Urbild aller Verantwortung“

Die hier entwickelte Perspektive geht von einer dialogischen Lesart von Hans Jonas‘ Verantwortungsethik aus, die ich in meiner Dissertation erarbeitet habe (vgl. Höpfl, im Druck). Jonas spricht in seinem Prinzip Verantwortung von einem „Urbild aller Verantwortung […], der elterlichen für das Kind“ (Jonas 2015, 252). Er meint, dass sich Verantwortung generell in der Beziehung zwischen Eltern und Kleinkind anschaulich zeige und in wesentlichen Aspekten verdeutlichen lasse. Es geht ihm dabei um ein strukturelles Paradigma und er führt – bis auf wenige persönliche Andeutungen auf seine eigene Erfahrung als Vater – keine konkreten Beispiele an. Die Eltern-Kind-Beziehung als Paradigma soll bei ihm eine mehrfach begründende Funktion für die Verantwortungsethik übernehmen: „in genetischer und typologischer Hinsicht, aber auch gewissermaßen in ‚erkenntnistheoretischer‘, nämlich wegen ihrer unmittelbaren Evidenz“ (Jonas 2015, 252). Zuletzt soll dieses Paradigma auch eine bio-ontologische Begründung ausdrücken und legitimieren: „Verantwortung im ursprünglichsten und massivsten Sinn folgt aus der Urheberschaft des Seins,“ (Jonas 2015, 260) also aus der elterlichen Zeugung eines menschlichen Lebens. Fragt man sich also, was Verantwortung bedeutet und wie sie aussieht, soll man sich laut Jonas in die Rolle eines Elternteils versetzen. Dies erlaube es – sei es mittels Erfahrung oder Einbildungskraft –, sich die Geltung und wesentliche inhaltliche Aspekte des Prinzips Verantwortung evident vor Augen zu führen.

Zur Vorbereitung meiner dialogischen Lesart dieses „Urbild[s]“ (Jonas 2015, 252) ist eine kritische Einordnung nötig. Obwohl mir nämlich Jonas‘ Darstellung prinzipiell einleuchtend erscheint, lässt sie sich sehr unterschiedlich interpretieren. Moralphilosophisch problematisch wäre es, Jonas‘ Paradigma der Elternschaft primär bio-ontologisch als normativ höchste Form des menschlichen Lebens und sittlicher Vervollkommnung zu interpretieren. Die Eltern-Kind-Beziehung erschiene in dieser Interpretation als ein objektivierendes Schema, in das sich insbesondere Kinder als Verantwortungsobjekte einzufügen und es zu reproduzieren hätten, statt zur Entwicklung einer eigenen Vorstellung vom guten Leben befähigt und ermuntert zu werden. Dieser Interpretationsansatz liefe zudem auf eine biologistische Ethik der Selbsterhaltung mit familiärer Fortpflanzung als oberster Tugend hinaus, die zu Ansprüchen von individueller Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und auch ökologischer Nachhaltigkeit querstünde. Leider legt Jonas durch seine ontologischen Fundierungsversuche und auch durch den Bezug auf seine naturphilosophischen Überlegungen mitunter eine solche Interpretation nahe.

Ich möchte statt dieser ontologischen Interpretation eine dialogische vorschlagen. In dieser geht es nicht darum, sich in die Rolle von biologischen Eltern und einer „Urheberschaft des Seins“ (Jonas 2015, 260) zu versetzen, sondern Jonas‘ Paradigma der Eltern-Kind-Beziehung als exemplarisches Beispiel dialogischer Verantwortung zu deuten. Diese Herangehensweise bezieht sich auf die Verantwortungsbeziehung, die ein Kleinkind in der Begegnung mit ihm und durch den von ihm ausgehenden Anspruch eröffnet. Auch für diese Interpretation finden sich bei Jonas einige Anknüpfungspunkte, wenn man seine sprachlichen Metaphern vom „Ja des Lebens: emphatisch als Nein zum Nichtsein“ (Jonas 2015, 160) ernstnimmt und seine Überlegungen zur Phänomenologie des Hörens und zum dialogischen Ursprung menschlicher Wahrheitserfahrung fruchtbar macht (vgl. Jonas 2010, 246–50; 304–16). Ohne diese interpretierende Lektüre hier im Einzelnen und systematisch vorführen zu können – vgl. hierzu meine Dissertation –, möchte ich stattdessen die Ansätze der beiden Autor*innen ansprechen, die mich zu dieser Lesart inspiriert haben: Hannah Arendt und Emmanuel Levinas. Die folgende Argumentation ist insofern keine systematische Interpretation von Jonas‘ Verantwortungsethik, sondern eine exemplarische Darstellung der gedanklichen Kooperation mit den genannten Autor*innen, in der der Fokus auf dialogisch-kooperative, anspruchsvolle Beispiele für eine sozial-ökologische Verantwortungsethik herausgearbeitet wird.

Hannah Arendts Verantwortung im Sprechen und Handeln

Hannah Arendts Beitrag zu dieser Kooperation entspringt ihrer Beschreibung der menschlichen Praxis des Sprechens und Handelns, sowie ihren Überlegungen zur Ethik und zum ethischen Urteilen (vgl. Arendt 2016; 2005; 1992). Den Ansatz zu einer Verknüpfung dieser Überlegungen mit Jonas‘ Prinzip Verantwortung hat sie selbst geliefert, indem sie ihren Jugendfreund Jonas nach dem Korrekturlesen seiner ersten Entwürfe darauf hingewiesen hat, dass ethische Verantwortung nicht auf eine bio-ontologische, sondern allenfalls auf eine politische Beziehung des Sprechens und Handelns zurückgeführt werden sollte. Da dieser Hinweis Arendts ihrerseits nicht schriftlich ausgearbeitet wurde, sondern nur als knappe Erwähnung in Jonas‘ Erinnerungen dokumentiert ist (vgl. Jonas 2003, 324), ist auch dazu umfassende Interpretationsarbeit nötig, deren Grundzüge im Folgenden dargelegt werden

Betrachtet man die Eltern-Kind-Beziehung mit Arendt als Praxis des Sprechens und Handelns, kann zunächst die Initiative des Kindes hervorgehoben werden. Im Sprechen und Handeln wird laut Arendt die Geburt eines individuellen Menschen zu einer zwischenmenschlichen Praxis aktualisiert: „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem einzelnen die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität“ (Arendt 2016, 217, vgl. 316f.) und die zugehörige zwischenmenschliche Verantwortung. Diese Verantwortung erwächst nicht aus einem bio-ontologischen Verwandtschaftsverhältnis, sondern unabhängig davon aus einer dialogischen Begegnung zwischen einzigartigen Menschen, die in ihrer Pluralität eine gemeinsame Praxis gestalten.

Diese dialogische Verantwortung erschöpft sich außerdem nicht in einer dyadischen Beziehung zwischen elterlichem Subjekt und kindlichem Objekt, sondern sie gilt sachlich vor allem der gemeinsamen Welt als Ermöglichungsraum für das gemeinsame Sprechen und Handeln (vgl. Arendt 2016, 315f.). Die elterliche Verantwortung sollte insofern nicht primär das Kind als Objekt von Erziehung im Blick haben, sondern die Welt, in die dieses Kind hineinwächst und die für das Zusammenleben mit ihm vorbereitet werden soll. Diese Welt ist nie nur privat, sondern als Ort des zwischenmenschlichen Sprechens und Handelns offen für die Mitwirkung Anderer. Arendt beschreibt diese gemeinsame Welt nach dem Vorbild der antiken Polis und das Sprechen und Handeln als pluralistische politische Praxis, in die menschliche Neuankömmlinge eingeführt werden und sich in ihrer Einzigartigkeit verwirklichen können sollen.

Damit dies möglich wird, sind laut Arendt auch andere menschliche Praktiken nötig, die selbst aber nur einen instrumentellen Charakter aufweisen. Zunächst muss natürlich das biologische Überleben gewährleistet werden. Die dafür nötige Tätigkeit beschreibt sie als Arbeit, deren zwingendes Los wir mit anderen Tieren und Organismen teilen, die ihren Stoffwechsel wie wir von Tag zu Tag in Gang halten müssen (vgl. Arendt 2016, 98–160). Auch die biologische Fortpflanzung gehört zu dieser Tätigkeitsform, aus der Verwandtschaftsverhältnisse erwachsen, aber noch keine unmittelbar zuschreibbaren Verantwortlichkeiten. Außerdem muss die Welt, in der das gemeinsame Sprechen und Handeln umfassend möglich wird, selbst geschaffen und gestaltet werden, was Arendt unter dem Begriff des Herstellens fasst (vgl. Arendt 2016, 161–212). Mithilfe dieser Tätigkeit schaffen Menschen Bauten, Technologien und Institutionen in der gemeinsamen Welt, welche Raum und Zeit für das zwischenmenschliche Sprechen und Handeln bieten, da sie stabil und dauerhaft sind. Aus dieser Tätigkeit kann außerdem Verantwortlichkeit im Sinne einer Werk-Urheberschaft erstehen.

Aber erst wenn eine solche Verantwortlichkeit nicht nur festgestellt wird, sondern wir uns gegenseitig über die darin zu verwirklichenden Werte, sowie über unser je eigenes Sprechen und Handeln Rede und Antwort stehen, dann entsteht zwischenmenschliche Verantwortung. Diese dialogisch verwirklichte Verantwortung betrifft nicht nur retrospektiv einzelne Werke, sondern prospektiv die Orientierung der gemeinsamen Welt und das zwischen uns zu verwirklichende Zusammenleben. In Anknüpfung an Jonas‘ Überlegungen zur ökologischen Bedingtheit menschlichen Lebens (vgl. Jonas 2015, 37f.) gehört dazu, dass diese Welt heute auch als unsere gemeinsame Natur und Biosphäre auf dem Planeten Erde verstanden werden muss. Auf diesem Planeten als unserer einzigen gemeinsamen Welt sollten wir für eine terrestrische Atmosphäre sorgen, in der ein gutes Zusammenleben und zwischenmenschliches Sprechen und Handeln umfassend möglich wird.

Exemplarisches Beispiel statt schematisches Urbild

Neben diesen inhaltlichen Modifikationen in Jonas‘ Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung ist in der Perspektive Arendts auch die Funktion und der Status dieses Beispiels für die Verantwortungsethik anzupassen. Während Jonas es als ontologisches „Urbild aller Verantwortung“ (Jonas 2015, 252) benennt, das jedem Verantwortungsverhältnis zugrunde liege, sollte man mit Arendt eine solche exklusive Rolle eines einzelnen Beispiels für die Ethik kritisch betrachten. Sie unterscheidet dafür mit Kant zwei verschiedene Urteilsformen, die auf jeweils unterschiedliche Weise eine Verknüpfung zwischen Einzelbeispielen und allgemeinen Prinzipien oder Ideen erlauben: bestimmende und reflektierende Urteile (vgl. Arendt 1992, 84f.; Kant 2011b, BXXV-BXXVIII).

Ein eindeutiges „Urbild“ müsste eine allgemeine Geltung erkennen lassen, mit der es sich in einem bestimmenden Urteil auf das Prinzip „aller Verantwortung“ beziehen lässt. Ein Urbild ist damit kein charakteristisches Beispiel unter möglichen anderen, sondern eher ein Beispiel im Sinne eines eindeutigen Schemas, ähnlich einer geometrischen Zeichnung, die für eine mathematische Form oder Gesetzmäßigkeit steht. Ein solches schematisches „Urbild aller Verantwortung“ (Jonas 2015, 252) wäre in jedem Einzelbeispiel von echter Verantwortung eindeutig erkenn- und bestimmbar und ließe damit die Geltung des ethischen Prinzips Verantwortung objektiv wahrnehmbar werden.

Mit Arendt können moralische Urteile angesichts der zwischenmenschlichen Pluralität aber keine bestimmenden Urteile sein, die in bestimmten Begebenheiten eindeutig ebenso bestimmte Prinzipien wie etwa Verantwortung erkennen lassen könnten. Vielmehr sind wir im Bereich der Moralität auf solche Urteile angewiesen, die sie mit Kant reflektierende Urteile nennt. Ein reflektierendes Urteil über ein einzelnes Beispiel hat immer nur exemplarische Geltung, d.h. es kann keine objektive Wahrheit beanspruchen, es ist kein Ausdruck einer überprüfbaren Erkenntnis. Stattdessen stellt es eine Wertung dar, mit der zugleich an die Mitmenschen um Zustimmung appelliert wird. Es besteht nur als Ausdruck des zwischenmenschlichen Sprechens und Handelns und wird nur in dieser zwischenmenschlichen Sphäre lebendig. Während Kant diese Urteilsform anhand ästhetischer Beispiele des Schönen und des Erhabenen in der Natur verdeutlicht hatte (vgl. Kant 2011b, B1–230), für die das Fehlen bestimmender objektiver Maßstäbe heute weniger problematisch erscheinen mag, sind mit Arendt auch in Fragen des moralisch Guten nur solche reflektierenden Urteile angemessen (vgl. Arendt 2005, 142). Auch diese finden dann allgemeine Geltung nicht als eindeutige Bestimmung eines Einzelbeispiels durch eine objektive Gesetzmäßigkeit, sondern nur als zwischenmenschliche Zustimmung, das beurteilte Einzelbeispiel als Exempel für eine darin reflektierte und zu verallgemeinernde Norm anzuerkennen.

Das bedeutet, dass ein entsprechendes Beispiel für Verantwortung in einem solchen reflektierenden Werturteil ebenso nur exemplarische Geltung beanspruchen kann. Während Jonas‘ ontologisierende Darstellung darauf hinausläuft, das Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung als ein eindeutiges Schema für Verantwortung zu nutzen, sollte es mit Arendt besser als exemplarisches Beispiel verstanden werden. Von außen betrachtet bleibt dann strittig, ob es sich beim Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung um eine ethisch gebotene Form von Verantwortung handelt. Das Urteil darüber bleibt als reflektierendes Urteil vom zwischenmenschlichen Sprechen und Argumentieren abhängig, das immer in bestimmten kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Kontexten stattfindet und eine Pluralität von Antworten zulässt. Dementsprechend kann die Eltern-Kind-Beziehung zwar als ein Beispiel für Verantwortung geltend gemacht werden, aber diese Behauptung ist kein deskriptiv-bestimmendes Urteil mit Verweis auf ein ethisches Naturgesetz. Sie ist vielmehr selbst ein reflektierendes Werturteil, das moralische Geltung beansprucht und an Mitlesende um Zustimmung appellieren muss.

Fragt man nach der Begründungskraft eines solchen nur exemplarischen Beispiels für die Verantwortungsethik, so muss man sich in gewisser Weise bescheiden. Eine Begründung im Sinne einer ontologischen Verankerung und Versicherung, die eindeutig gute Vorbilder objektiv erkennbar werden ließe, ist damit – wie auch in Kants Frage nach dem ästhetisch Schönen und Erhabenen – nicht zu haben. Mit Arendt ist das aber nicht unbedingt ein Makel, sondern schlicht eine Folge der Orientierung am zwischenmenschlichen Sprechen und Handeln und der darin eröffneten Pluralität. Sollen moralische Prinzipien und Ideen nicht nur diese zwischenmenschliche Praxis beschränken, wie es naturhafte oder auch menschlich hergestellte Zwänge tun, sondern eine autonome Ordnung und freie Selbstbeschränkung der zwischenmenschlichen Pluralität um willen dieser Pluralität selbst sein, dann dürfen sie deren Offenheit nicht grundsätzlich beschneiden. Im Dienste zwischenmenschlicher Moralität sollte es nicht darum gehen, die „Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 2016, 234) durch Herstellung durchgehend berechenbarer Verhältnisse abzuschaffen, oder das „Handeln durch Herstellen zu ersetzen und überflüssig zu machen“ (Arendt 2016, 278). Stattdessen sollte der Anspruch sein, die zwischenmenschliche Pluralität mit ihren eigenen Mitteln zu koordinieren und diese Form persönlicher Freiheit füreinander zu ermöglichen, nämlich mithilfe von Verbindlichkeitspraktiken wie dem Verzeihen und Versprechen (vgl. Arendt 2016, 300–317), sowie dem Sich-voreinander-verantworten. Die Prinzipien und Ideale solcher Verbindlichkeitspraktiken lassen sich nicht zweifelsfrei begründen und theoretisch fest bestimmen, ohne das zwischenmenschliche Bezugsgewebe dabei zu untergraben. Sie sollten vielmehr exemplarisch reflektiert und plausibilisiert werden, um als dialogische Praktiken im Sprechen und Handeln selbst überzeugen zu können.

Anspruchsvolle Exemplarität

Aus Arendts Perspektive kann das von Jonas aufgenommene strukturelle Beispiel einer verallgemeinerten Beziehung zwischen Eltern und Kindern eigentlich auch nur ein Grenzfall eines exemplarischen Beispiels sein. Dies wird deutlich, wenn man ihre Erläuterung betrachtet, in der sie die unterschiedlichen Urteils- und Beispielarten anhand der Darstellung eines Tisches verdeutlicht:

„Let me illustrate this difference with an instance outside the moral sphere, and let us ask, what is a table? In answer to this question, you either call upon the form or the (Kantian) schema of a table present in your imagination, to which every table must conform in order to be a table at all. Let’s call this the schematic table […] Or you can finally choose the best among all tables you know of or can imagine, and say this is an example of how tables should be constructed and how they should look. Let us call this the exemplary table“ (Arendt 2005, 143f.).

Ein solcher „exemplarischer Tisch“ ist ein Einzelgegenstand, dessen beispielhafte Eigenschaften verallgemeinert werden. Eine rein strukturelle Eltern-Kind-Beziehung als exemplarisches Beispiel zu verstehen stellt demnach einen Grenzfall dar, der nur innerhalb eines ethischen Meta-Diskurses sinnvoll ist, in dem verschiedene Strukturen als spezifische gedankliche Einzelgegenstände verhandelt werden. Für die Beurteilung einer konkreten zwischenmenschlichen Beziehung ist damit aber nichts wesentliches gewonnen, da die Verknüpfung dieser konkreten Beziehung mit einer gedanklichen Beziehungsstruktur in moralischen Fragen selbst wieder ein reflektierendes Urteil erfordern würde.

Glücklicherweise fällt die Beurteilung von konkreten Beziehungen uns insofern leichter, als wir diese nicht wie gedankliche Strukturen nur formal beschreiben können, sondern in ihnen selbst leben. Dass eine konkrete Eltern-Kind-Beziehung auch eine Verantwortungsbeziehung mit moralisch verpflichtendem Charakter ist, das benötigt zunächst keine äußerliche Beurteilung. Stattdessen kann das Urteil in der Beziehung selbst laut werden. Damit ist keine deskriptive Selbstvergewisserung gemeint. Vielmehr kann der normative Anspruch eines Kindes, das elterliche Verantwortung einfordert, selbst als ein solches exemplarisches reflektierendes Urteil verstanden werden. Die „Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen“ (Arendt 2016, 213), die schon im Schrei eines Kleinkindes verwirklicht wird, ist gleichermaßen Mitteilung und Anspruch an Eltern (wie auch Erziehende und andere Mitmenschen), für die gemeinsame Beziehung und deren weltliche Bedingungen Verantwortung zu übernehmen. Selbst ein Kind ohne distinguiertes Sprachvermögen kann diese Beziehung initiieren und dabei Anspruch auf Verantwortung erheben. In einem solchen kindlichem Anspruch wird die dadurch eröffnete Beziehung aus sich selbst heraus als exemplarisches Beispiel für Verantwortung ausgedrückt und beurteilt. Das exemplarische Beispiel der Verantwortung vor einem Kind ist also nicht nur anspruchsvoll im Sinne einer Herausforderung, sondern auch im Sinne der in ihm sich ausdrückenden Anspruchshaftigkeit.

Arendt behandelt eine solche moralische Anspruchshaftigkeit selbst nicht anhand alltäglicher Situationen, sondern nur anhand des literarischen Beispiels der Forderungen Jesu von Nazareth. Sie bezieht diese Anspruchshaftigkeit des erwachsenen Jesu zwar implizit auch auf „‚die frohe Botschaft‘“ seiner Geburt (vgl. Arendt 2016, 317), hebt dann aber v.a. auf seine radikalen Forderungen zur Feindesliebe oder zur Unterlassung gedanklicher Sünden ab. Diese versteht sie zwar als gehaltvolle Beispiele selbstloser Güte, aber erkennt in ihnen zugleich eine Überforderung jedes vernünftigen Selbstverhältnisses und damit auch eine Unvereinbarkeit mit dem praktischen Sprechen und Handeln (vgl. Arendt 2016, 90f.). Was sie an dieser Stelle nicht erwähnt, ist die gemeinschaftliche Bewegung, die Jesus durch sein überforderndes Sprechen und Handeln innerhalb des Judentums seiner Zeit organisiert hatte. Dies zeigt, dass auch Jesu Forderungen durchaus ein zwischenmenschliches Bezugsgewebe stiften konnten, wenigstens als Widerstandsbewegung in einem Umfeld politischer Unterdrückung und gesellschaftlicher Umbrüche (vgl. Crossley und Myles 2023).

Alltägliche ethische Begegnungen mit Emmanuel Levinas

Allerdings ist dieses theologisch überladene Beispiel ohnehin nicht das beste, um im 21. Jahrhundert eine sozial-ökologische Verantwortungsethik mit emanzipativem Anspruch zu verdeutlichen (vgl. zu sozial-restriktiven Interpretationen etwa Fried 2016, 234–49). Außerdem beschreibt Arendt das exemplarische Beispiel Jesu selbst nicht als Praxisform, sondern wie die anfangs kritisierten Betrachtungen eher als heiliges Einzelvorbild – analog zu anderen von ihr angeführten Heldenbeispielen wie „Achilles for courage, Solon for insight (wisdom), etc.“ (Arendt 2005, 144). Um sowohl diese vereinzelnde Heiligen- und Heldennarrative abzulegen als auch die theologisch besetzte Thematik zu verlassen, möchte ich Arendts Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehung im Sprechen und Handeln ergänzen, nämlich durch die Beschreibung der ethischen Beziehung von Emmanuel Levinas. Levinas liefert genau eine solche gleichzeitig profane und dennoch normative Deutung der konkreten zwischenmenschlichen Beziehung, die bei Arendt zwar angelegt aber nicht ausformuliert ist (vgl. Topolski 2015; Bell 2018).

Es geht in dieser gedanklichen Kooperation darum, die von Arendt benannte „Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen“ (Arendt 2016, 213) nicht nur als beobachtbares Ereignis oder sachliche Identifikation einer Person zu verstehen, sondern mit Levinas als „Epiphanie des Anderen“ (Lévinas 2008, 359). In dieser Enthüllung wird damit nicht nur eine soziale, sondern eine ethische Beziehung der Güte eröffnet:

„Ganz und gar uninteressiertes Begehren – Güte […] Dies ereignet sich positiv als Besitz einer Welt, die ich dem Anderen als Gabe überreichen kann; d. h. dies ereignet sich als Gegenwart vor einem Antlitz. […] Diese Beziehung über die Dinge, die von nun an der Möglichkeit nach gemeinsam sind, d. h. fähig, gesagt zu werden – ist die Beziehung der Rede. Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz“ (Lévinas 2008, 63).

Die moralische Güte, die Dinge „dem Anderen als Gabe [zu] überreichen“, hatte Arendt nur am enthobenen Beispiel Jesu behandelt. Laut Levinas ist diese gütige Praxis schlicht im Angesicht eines jeden anderen Menschen geboten, d.h. in jeder alltäglichen und profanen Begegnung.

So mystisch der Ausdruck „Antlitz“ als Übersetzung für das französische „visage“ klingen mag, so meint er doch nur das sozial alltägliche Ereignis, dass sich ein anderer Mensch uns gegenüber als eigenständiger und überraschend freier Anderer enthüllen, sich unseren Erwartungen entziehen, uns Neues über sich und die Welt beibringen und dadurch „die Idee des Anderen in mir überschreite[n]“ kann. Diese überschreitende Transzendenz im Antlitz eines anderen Menschen beschreibt Levinas als alltägliche Wirklichkeit der Idee des Unendlichen, welche sich dadurch auszeichnet, „daß ihr ideatum die Idee überschreitet“ (Lévinas 2008, 60). Jede Begegnung mit einem anderen Menschen ist aus dieser Herangehensweise also eine unmittelbare Erfahrung des Unendlichen.

Diese zwischenmenschliche Erfahrung des Unendlichen – in Arendts Worten die Erfahrung der Pluralität als absolute Verschiedenheit – ist mit Levinas der ganz profane Beginn der ethischen Beziehung:

„Der Empfang des Anderen, der Anfang des sittlichen Bewußtseins ist es, der meine Freiheit in Frage stellt. Diese Weise, sich an der Vollkommenheit des Unendlichen zu messen, ist also keine theoretische Betrachtung. Sie vollzieht sich als Scham; in der Scham entdeckt die Freiheit ihren mörderischen Charakter, der in ihrer Ausübung selbst liegt […] Die Moral beginnt, wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst zu rechtfertigen, als willkürlich und gewalttätig empfindet“ (Lévinas 2008, 115f.).

Dies ereignet sich mit Levinas immer in der dialogischen Beziehung angesichts eines anderen Menschen:

„Das Antlitz ist eine lebendige Gegenwart, es ist Ausdruck. Das Leben des Ausdrucks besteht darin, die Form zu zerstören, unter der sich das Seiende […] verbirgt. Das Antlitz spricht. Die Manifestation des Antlitzes ist schon Rede“ (Lévinas 2008, 87).

In einer solchen dialogischen Beziehung der Rede kann die gemeinsame Welt mithilfe der Sprache in Besitz genommen und in Güte miteinander geteilt und gestaltet werden, statt nur als Zusammenhang objektiver Gegenstände souverän entdeckt und berechenbar gemacht zu werden. Die sprechende und handelnde Beziehung mit anderen Menschen ist mit Levinas immer auch eine moralisch aufgeladene Verantwortungsbeziehung, in der ich vor diesen anderen Menschen Rede und Antwort zu stehen habe.

Ein erstes Beispiel für eine sozial-ökologische Verantwortungsethik

Diese mit Levinas angereicherte Perspektive unterstreicht die mit Arendt begonnene Interpretation von Jonas‘ Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung als exemplarisches Beispiel für moralische Verantwortung im Sprechen und Handeln. Im anspruchsvollen Angesicht eines Kindes ist Verantwortung für die gemeinsame Welt und die Ermöglichung einer dialogischen Beziehung exemplarisch geboten. Der exemplarische Anspruch des Kindes stiftet diese Beziehung, für deren nachhaltige Bedingungen die Angesprochenen Verantwortung übernehmen sollen: ökologisch für die gemeinsame Umwelt als Lebensgrundlage, und sozial für die Möglichkeit dialogischen Sprechens und Handelns als Zeit und Raum des Zwischenmenschlichen; oder kurz, für die terrestrische Atmosphäre eines guten Zusammenlebens. Diese Verantwortung ist aus dieser ethischen Perspektive keine Frage von biologischer Verwandtschaft, sondern Ausdruck der Beziehung mit einem Kind als einem anderen Menschen. Dessen Anspruch ist keine äußerliche Bewertung eines beobachtenden Ethikers, sondern er wird durch das Kind selbst geäußert, was neben den Erziehenden durchaus auch andere Mitmenschen betrifft.

Dieser kindliche Anspruch erklingt allerdings nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell, sofern wenigstens Kleinkinder auch objektiv erzieherischer Verantwortung bedürfen um zu überleben und in das gemeinsame Sprechen und Handeln eingeführt zu werden. Dazu sind die sozialen und ökologischen Bedingungen für das zukünftige Leben heutiger Kinder strukturell bedroht durch akute Krisen und Kriege (vgl. Dixson-Declève u. a. 2022; Stockholm International Peace Research Institute 2024), für deren Überwindung und Befriedung wir heute Lebenden die Verantwortung übernehmen sollen und können. Eine terrestrische Atmosphäre, die ein im Sprechen und Handeln selbstbestimmtes und in diesem Sinne gutes Zusammenleben ermöglicht, ist im exemplarischen Anspruch eines jeden Kindes implizit gefordert.

Verantwortungsvolles Sprechen und Handeln als Antwort auf diesen kindlichen Anspruch ist damit zwar keine objektiv-ontologische Notwendigkeit, aber eine zwischenmenschlich-moralische Forderung und mögliche Praxis angesichts einer strukturellen Bedürftigkeit. Die beispielhafte Darstellung einer solchen Verantwortungsbeziehung ist kein schematisches Vorbild, aber wenigstens ein anschauliches Exempel für Verantwortung. Darin erscheint verantwortungsvolles Sprechen und Handeln, als ob es eine objektive Notwendigkeit wäre, nach der wir sprechen und handeln müssten. Die Beurteilung und Bewertung dieses Zusammenhangs ist damit keine Anwendung eines zwingenden Moralgesetzes, aber ein reflektierendes Urteil mit Anspruch auf eine allgemeine Moralität (vgl. Arendt 1992, 84f.). Das regulative Ideal dieser allgemeinen Moralität wäre es, ein gutes Zusammenleben in der gemeinsamen Atmosphäre unseres Planeten in sozialer und ökologischer Hinsicht zu ermöglichen, sodass sich das zwischenmenschliche Sprechen und Handeln in all seiner Pluralität entfalten kann.

Eine kritisch-intersektionale Typik verantwortungsethischer Beispiele

Die Erziehenden-Kind-Beziehung ist nicht die einzig mögliche exemplarische Darstellung von sozial-ökologischer Verantwortung, sondern nur eine von vielen. Bei Levinas finden wir einige weitere: er benennt die Begegnung mit einem Anderen im „Status als Fremder, Entblößter, Proletarier“ (Lévinas 2008, 102), sowie den anspruchsvollen „Blick des Fremden, der Witwe und des Waisen“ (Lévinas 2008, 105). Hinter allen diesen Beispielen steht eine literarische Tradition der ethischen Problematisierung. Die Gastfreundschaft gegenüber den Fremden ist ein Topos der griechischen Antike und wurde jüngst von Bernhard Waldenfels auch in ethischer Hinsicht aktualisiert (vgl. Hiltbrunner 2005; Waldenfels 2012), der Begriff des Proletariers verweist auf die marxistische Tradition, die u.a. Jean-Paul Sartre mit einem ethischen Verantwortungsanspruch verknüpfte (vgl. Marx und Engels 1977; Sartre 1995), und sowohl das Thema der Nacktheit als auch die Beispiele der Witwe und des Waisen finden jeweils umfassende Behandlung in der jüdischen wie auch in der christlichen und islamischen Tradition (vgl. Górnicka 2016; Molnar-Hidvegi 2010). Levinas‘ eigene Arbeiten können als ethische Thematisierung der entblößten Nacktheit betrachtet werden, da er diese als zentrales Charakteristikum seines Antlitz-Begriffes versteht (vgl. Lévinas 2008, 102). Das Beispiel der Witwe lässt sich wiederum als Ausgangspunkt für eine explizit feministische Ethik verstehen, die die strukturelle Benachteiligung von Frauen allgemein und von alleinerziehenden Frauen im Besonderen als grundlegendes gesellschaftliches Problem erkennt (vgl. Kessler 2020). Zuletzt kann das Beispiel des Waisen als Kurzform der oben vorgeführten dialogischen Lesart von Jonas‘ Eltern-Kind-Beispiel gelten, sofern diese vom Aspekt biologischer Verwandtschaft gerade absieht.

Damit diese Beispiele nicht einfach als stereotype Opfergestalten xenophober, klassistischer, ausbeutender, sexistischer oder kindesgefährdender Umstände erscheinen, sondern als anspruchsvolle Beispiele für spezifische Spielarten von Verantwortung, sollten sie freilich in konkreten zwischenmenschliche Beziehungsformen dargestellt werden. Es sollte nicht um ein deskriptives Sezieren von Benachteiligungen und die Identifikation von traditionellen Opfer-Archetypen gehen, sondern um exemplarische Beispiele von Verantwortung gegenüber strukturellen zwischenmenschlichen Bedürftigkeiten und Benachteiligungen, inklusive der Kontexte, in denen diese nachvollziehbarerweise entstehen. Hierfür sind die von Levinas gewählten Titel mitunter als Metaphern für die jeweiligen Bedürftigkeiten und Benachteiligungen zu verstehen, wie er auch selbst von der Entblößtheit des Antlitzes eines anderen Menschen in solcher metaphorischer Weise spricht, bei der es nicht um das faktische Fehlen von Gesichtsbehaarung oder eines Mundschutzes geht. Jedes dieser Beispiele betont vielmehr einen strukturell unterscheidbaren Anspruch an das verantwortungsvolle Sprechen und Handeln in der gemeinsamen Welt, die für ein gutes Zusammenleben allesamt geboten und hilfreich wären.

Mit dem ethischen Ideal, ein gutes Zusammenleben in unserer gemeinsamen Atmosphäre zu unterstützen, könnte eine geordnete Sammlung solcher anspruchsvoller Beispiele für eine sozial-ökologische Verantwortungsethik hilfreich sein. Sofern die bei Arendt aufgenommene Konzeption der Exemplarität stark von Kants Kritik der Urteilskraft abhängt, wäre hierfür auch ein Anknüpfen an dessen „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ (Kant 2011a, A119–26) zu bedenken, in der Praktiken statt persönliche Charaktere geordnet werden. Freilich sollte sie nicht mit der Grundlage zu einer hierarchisch-regelartigen Metaphysik der Sitten verwechselt werden, was das Missverständnis einer zwingenden Moral-Ordnung nahelegen und mit der Idee zwischenmenschlicher Pluralität im Widerstreit liegen würde. Aber als egalitäre und offene Zusammenstellung von exemplarischen Verantwortungs-Praktiken könnte eine solche Typik eine zusätzliche Möglichkeit der Orientierung in akademischen ethischen Diskursen wie auch für pädagogische Zwecke bieten.

Ein vielversprechender Ordnungsansatz für eine solche Typik wäre das sozialwissenschaftliche Konzept der Intersektionalität. Dieses hebt nicht auf stereotype Benachteiligungsidentitäten ab, sondern versteht menschliche Individuen als Schnittpunkte verschiedener struktureller Diskriminierungsformen sowie als initiative Akteure für deren Überwindung (vgl. Ganz und Hausotter 2020, 15–46). Dieser sozialwissenschaftlich informierte Ansatz macht zudem deutlich, dass strukturelle Diskriminierungsformen sozial erzeugt und damit veränderbar sind. In einer dadurch informierten verantwortungsethischen Typik würden also neben den direkten verantwortungsvollen Praktiken gegenüber Benachteiligten auch sekundäre Praktiken sichtbar, die nicht einzelnen Menschen, sondern dem strukturellen Missstand als solchem Abhilfe schaffen könnten. Gegenüber Kindern mit ausreichender erzieherischer Unterstützung wären dies beispielsweise Maßnahmen, die ihnen mehr soziale Mitbestimmung durch Beteiligungspraktiken, bessere Mobilität durch kindersichere Verkehrswege, oder schlicht gute Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten in ihrer Zukunft durch soziale und ökologische Vorsorge ermöglichen.

Außerdem wird das Konzept der Intersektionalität zunehmend in empirisch orientierten Untersuchungen angewendet, die wiederum als Quellen für verantwortungsethische Beispiele dienen können. Zweifelsohne wären auch philosophisch-empirische Arbeiten möglich, um über eine akademisch-literarische Perspektive hinaus anerkannte Alltagsbeispiele für Verantwortungsbeziehungen festzuhalten. Ein solches Projekt einer kritisch-intersektionalen Typik könnte den macht- und privilegienkritischen Ansatz der intersektionalen Verantwortungsethik von Michelle Ciurria um die hier geforderte Beziehungs- und Kooperationsperspektive ergänzen (vgl. Ciurria 2019). Für pädagogische Zwecke kann zudem an Bibiana Kohs Heuristik für eine intersektionale Ethik angeknüpft werden (vgl. Koh 2024).

Aktuelle anspruchsvolle Beispiele

Als Ansätze für eine solche Sammlung bieten sich konkrete Beispiele aus Alltag und Gesellschaft an, von denen ich abschließend noch zwei skizzieren möchte. Beide lassen sich auch als kooperative Ausdeutungen und intersektionale Kombinationen der oben von Levinas aufgenommenen Kurzbeispiele verstehen. Das erste sind UNICEF-Projekte als Beispiele institutionalisierter globaler Verantwortungspraxis:

„Der Auftrag von UNICEF ist es, die Kinderrechte für jedes Kind zu verwirklichen, unabhängig von seiner Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Richtschnur für die weltweite Arbeit ist die UN-Konvention über die Rechte des Kindes. Von der schnellen Nothilfe bis zum langfristigen Wiederaufbau hilft UNICEF, dass Mädchen und Jungen überall auf der Welt gesund und sicher groß werden und ihre Fähigkeiten voll entfalten können“ (unicef 2025).

Mit seinen Hilfsprojekten verschreibt sich UNICEF also ähnlichen Aufgaben, wie sie oben für die erzieherische Verantwortung in der Beziehung zwischen Erziehenden und einem Kind skizziert wurden, ohne aber eine individuelle Beziehung zu ersetzen. UNICEF agiert vielmehr als global vermittelnde Instanz zwischen einerseits Kindern und Familien, die aufgrund von Krieg, Flucht, Armut oder anderen Notsituationen akut bedürftig sind, und andererseits solchen Menschen, die als Spendende, Freiwillige oder Mitarbeitende diese Bedürfnisse zu stillen helfen können. Aus intersektionaler Perspektive kommt in diesen Fällen also zur Bedürftigkeit als Kind noch eine sozioökonomische Benachteiligung aufgrund der jeweiligen Notsituation hinzu – es werden gewissermaßen Levinas‘ Metaphern des ‚Waisen‘ und des ‚Proletariers‘ kombiniert. Als institutionelles Beispiel betrachtet ist es auch interessant festzuhalten, dass die Arbeit von UNICEF nicht nur individuelle Hilfe leistet, sondern bereits selbst auf einer strukturellen Ebene agiert, auf der sie Krisen und sozioökonomische Benachteiligungen statistisch lindert, aber diese auch nicht vollumfänglich ausgleicht, und zusätzlich eigene Probleme erzeugt (vgl. Arcos González und Gan 2024).

Um seine institutionelle Vermittlerrolle zwischen sozial wie räumlich mitunter weit getrennten Menschen zu konkretisieren, präsentiert UNICEF seine Arbeit selbst intensiv anhand beispielhafter Projekte und Hilfsempfänger*innen (vgl. unicef 2023). Diese individuellen Beispiele zeigen diejenigen bedürftigen Kinder und Familien, die von vergangenen oder aktuellen Projekten profitieren, und drücken deren Verantwortungsanspruch direkt an potentielle Unterstützende und Spendende gerichtet aus. So reproduzieren sie die oben genannte Minimalkonstellation von Verantwortung zwischen anspruchsvoller Instanz und angesprochenem Subjekt in einer problembehafteten gemeinsamen Welt. Die institutionelle Vermittlungsarbeit tritt dabei in den Hintergrund, sie erscheint aber als etablierter Problemlöser in dieser gemeinsamen Welt, der nur durch Mitarbeit oder Spende aktiviert werden müsse, um die problematische Benachteiligung anzugehen. Diese exemplarische Konstellation von unmittelbarer ethischer Geltung des individuellen Anspruchs, jeweils mitgenanntem spezifischem Hilfsprojekt und im Hintergrund stehender Vermittlungsinstitution bietet Gelegenheiten, globale Verantwortung gegenüber Kindern und Familien anschaulich und kritisch zu thematisieren.

Als zweites Beispiel möchte ich Gisèle Pelicot und den Gerichtsprozess gegen ihren Ex-Mann aufgreifen. Letzterer hatte seine Frau über viele Jahre regelmäßig betäubt und zusammen mit mindestens 50 anderen wechselnden Männern vergewaltigt, wofür er und die Mittäter im Dezember 2024 zu Haftstrafen verurteilt wurden. Der Gerichtsprozess konnte umfassend öffentlich verfolgt werden, da Gisèle Pelicot darauf mit der Begründung bestand, dass die Scham die Seite wechseln müsse (vgl. „Vergewaltigungen von Mazan“ 2025). Pelicot wurde im Rahmen der Prozess-Berichterstattung als Heldin und Ikone bezeichnet, und ihr Konterfei wurde als feministisches Graffito weltweit verbreitet.

Aus einer verantwortungsethischen Perspektive aber verdeckt die bloße Betrachtung als Heldin wesentliche Aspekte ihres zwischenmenschlichen Sprechens und Handeln. Zunächst ist sie nämlich auch ein exemplarisches Opfer sexualisierter Gewalt. Aus dieser leidvollen Position heraus gewinnt sie durch ihr öffentliches Auftreten eine heldenhaft erscheinende Selbstbestimmung, initiiert aber zugleich auch eine vielschichtige Verantwortungsbeziehung mit ihren Mitmenschen. Ihr Verantwortungsanspruch richtet sich an mindestens zwei verschiedene Akteure: Erstens an die französische Justiz als Institution, die die erlittenen Verbrechen verfolgen und ihre Wiederholung verhindern soll – die institutionelle Praxis dieser eingeforderten Strafverfolgung konnte im Verlauf des Prozesses umfassend nachverfolgt werden. Ihr Anspruch richtet sich zweitens an die Öffentlichkeit und uns alle, die wir in patriarchal geprägten Gesellschaften leben, in denen durch Männer ausgeübte sexualisierte Gewalt immer noch oft schamlos normalisiert und toleriert wird (vgl. Fauth 2024; Hayes 2023). In diesem Anspruch lässt sich eine intersektionale Kombination von wenigstens zwei Diskriminierungsformen erkennen: einerseits die patriarchale Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen, und andererseits eine damit oft verbundene aber nicht identische Praxis der Beschämung von sozial Benachteiligten, die in unseren individualisierten Konkurrenzgesellschaften zu ‚Wettbewerbsverlierer*innen‘ umgedeutet werden (vgl. Neckel 1993) – in Bezug auf Levinas zeigt sich hier also eine Kombination von ‚Witwe‘ und durch Beschämung ‚Entblößter‘. Pelicots Anspruch, dass die Scham die Seite wechseln müsse, fordert uns zu einer kritischen Auseinandersetzung und Veränderung dieser strukturellen Unterdrückungsformen von Frauen und Opfern von Gewalt und Beschämung auf. Auch diesem Anspruch wurde teilweise in einer öffentlich erkennbaren Verantwortungspraxis bereits begegnet, nämlich durch die vielen Menschen, die Pelicot und ihre Sache im Rahmen des Gerichtsprozesses und darüber hinaus gemeinsam unterstützt haben. Die dadurch begonnene feministische Verantwortungspraxis kann anhand von Pelicots Beispiel exemplarisch verdeutlicht werden.

Ausgang

Neben dem hier skizzierten Projekt einer Sammlung typischer Beispiele für eine intersektionale Verantwortungsethik sind sicher auch andere Herangehensweisen denkbar, um die akademische Tradition vornehmlich helden- oder heiligenhafter Beispiele in der Ethik ‚kaputtzudenken‘ (vgl. Bröckling 2020, 225–36) und durch dialogische und kooperative Beispiele abzulösen. Dies scheint mir geboten in Zeiten, in denen politisch-demokratische wie auch akademische Diskurse durch autokratische und gewaltverherrlichende Kräfte weltweit gekapert und gewaltlose Kooperationspraktiken entmachtet zu werden drohen. Der Fokus auf vereinzelte und überzeichnete Helden- und Heiligenfiguren unterstützt solche bedrohlichen Tendenzen, sofern in ihnen ein wirkmächtiges Sprechen und Handeln immer nur als kaum erreichbare und beinahe gewaltvolle Leistung von herausgehobenen Einzelautoritäten erscheint, während ein gerechtes Zusammenleben doch vielmehr aus gelungenen Absprachen und Kooperationen entsteht. Diese sind zwar immer anspruchsvoll für alle Beteiligten und zugleich nie perfekt, aber sie bieten der zwischenmenschlichen Pluralität weit bessere Entfaltungsgelegenheiten und sind eine wichtige Voraussetzung, um ein gutes Zusammenleben in unserer gemeinsamen terrestrischen Atmosphäre nachhaltig zu ermöglichen.

Literatur