Beispiele und soziale Zugehörigkeit: Wie
intersubjektive Einbildungskraft die Wahl von Vorbildern einschränkt

Examples and social belonging - How intersubjective imagination limits the choice of role models

JOHANNA SINN, UNIVERSITÄT PASSAU

Zusammenfassung: Einbildungskraft ist für den Gebrauch von moralisch vorbildhaften Beispielen wichtig. Um sich eine Person zum Vorbild zu machen, stellt man sich diese, und wie sie handeln würde, vor. Doch Einbildungskraft kommt nicht nur im direkten Bezug auf gewählte Beispiele zum Einsatz, sondern auch in Bezug auf das Urteil anderer über diese Beispiele. Findet mein Beispiel ihre Zustimmung? Was denken sie darüber? Von welchen geteilten Maßstäben kann ich bei der Wahl eines Vorbilds ausgehen? Diese Fragen beantworten wir nicht nur durch Gespräche, sondern auch durch imaginierte Standpunktwechsel. Sie beeinflussen, was wir schließlich für exemplarisch halten, und damit den Prozess, der noch vor der eigentlichen Orientierung an Vorbildern festlegt, wer überhaupt als Vorbild infrage kommt und schließlich gewählt wird. Der Aufsatz untersucht, wie die Wahl von vorbildhaften Beispielen und damit verbundene Probleme sich mithilfe eines intersubjektiven Verständnisses von Einbildungskraft erklären lassen. Der Begriff der Einbildungskraft und sein Verhältnis zum exemplarischen Status von Beispielen wird anhand von Arendts Konzeption des reflektierenden Urteilens eingeführt und es wird gezeigt, inwiefern die Einbildungskraft in einer intersubjektiven Dimension für das Verständnis von Exemplarität wichtig ist. Im Anschluss wird diskutiert, wie sich soziale Situiertheit auf diesen Prozess auswirken kann und welche Probleme für die Wahl von Vorbildern dadurch entstehen können. Dabei werden drei Aspekte in Arendts Konzeption vertieft und im Hinblick auf systematische Fragen zur Rolle der Einbildungskraft bei der Wahl von Beispielen besprochen. Es handelt sich erstens um historische und kulturelle Rahmenbedingungen, die bei mangelnder Reflexion oder durch Ungleichheiten in der öffentlichen Repräsentation zur Schwierigkeit werden. Zweitens geht es um Effekte der Projektion, die bei einem imaginativen Standpunktwechsel entstehen können. Und drittens ist zu erwägen, inwiefern Beispiele zur imaginativen Verhandlung von Zugehörigkeiten zu gesellschaftlichen Gruppen dienen. Der Aufsatz argumentiert dafür, dass die intersubjektiv eingesetzte Einbildungskraft bei der Wahl von Beispielen zwar Orientierungshilfe bietet, aber anfällig für Verzerrungen ist, sodass imaginative Standpunktwechsel um Reflexion und realen Austausch ergänzt werden sollten.

Schlagwörter: Exemplarität, Beispiel, Einbildungskraft, Standpunkt, Urteilen

Abstract: Imagination is essential for the use of moral examples and exemplars. To adopt a person as a role model, one imagines them and how they would act. However, imagination is not only employed in direct relation to examples but also in relation to others' judgments about these examples. Do others approve of my example? What do they think about it? What shared standards can I assume when selecting a role model? We answer these questions not only through direct conversation, but also by imaginatively taking on others‘ perspectives. This affects whom we ultimately consider to be exemplary and thus the process that determines who qualifies as a role model and is ultimately chosen, even before the actual orientation towards them. The article examines how the choice of role models and associated problems can be explained with the help of an intersubjective understanding of imagination.

The concept of imagination and its relation to exemplarity is introduced on the basis of Arendt's conception of reflective judgment and the extent to which imagination in an intersubjective dimension is important for the understanding of exemplarity is shown. Subsequently, it will be discussed how social situatedness can affect this process and what problems can arise for the choice of role models as a result. Three aspects of Arendt's conception will be discussed in greater depth and with regard to systematic questions about the role of imagination in the choice of examples: Firstly, these are historical and cultural framework conditions that become difficult when there is a lack of reflection or due to inequalities in public representation. Secondly, it is about the effects of projection that can arise from an imaginative change of viewpoint. And thirdly, the extent to which examples are used for the imaginative negotiation of our belonging to social groups must be considered. The article argues that the intersubjective use of imagination in the choice of examples provides guidance, but is susceptible to distortion, so that imaginative changes of viewpoint should be supplemented by reflection and real exchange.

Keywords: exemplarity, example, imagination, standpoint, judgment

1 Einleitung

Sich ein Beispiel an jemandem zu nehmen und sich daran zu orientieren, setzt Einbildungskraft voraus: Wenn Vorbilder im Alltag oder in außergewöhnlichen Situationen handlungsleitend sind, geschieht dies, indem man sich vorstellt, wie die vorbildhafte Person in diesen Situationen handeln würde, und wie man selbst dies umsetzen kann. Aber dies ist nicht die einzige Hinsicht, in der die Einbildungskraft an der Wahl von Beispielen mitwirkt. Vielmehr trägt die Vorstellung der Reaktionen und Perspektiven anderer auf ein gewähltes Beispiel maßgeblich dazu bei, ob ich mich daran orientieren werde oder nicht. Welche Vorbilder sind im Freundeskreis anerkannt? Was denken meine Kolleg:innen darüber? Von welchen geteilten Maßstäben kann ich bei der Wahl eines Vorbilds ausgehen? Diese Fragen beantworten wir nicht nur durch Gespräche, sondern auch durch imaginative Standpunktwechsel. Sie beeinflussen, was wir für exemplarisch halten und halten zu können glauben.

Der imaginative Standpunktwechsel bei der Wahl von Beispielen hat einerseits eine orientierende und versichernde Funktion, andererseits kann er auch einen verzerrenden Einfluss bedeuten. Dieser Ambivalenz werde ich im vorliegenden Aufsatz nachgehen. Im Folgenden soll deshalb die Einbildungskraft in ihrer intersubjektiven Ausrichtung untersucht werden, d.h. mit Blick darauf, wie das Verhältnis zu anderen hier zum Tragen kommt. Den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bilden Hannah Arendts Schriften zum Urteilen mit exemplarischer Gültigkeit. Sie zeigen, warum die imaginative Orientierung an anderen grundsätzlich wichtig für diese Auswahl ist, und bieten Anschlussmöglichkeiten für systematische Fragen. Ich möchte darlegen, welche Fallstricke damit einhergehen, wenn die Wahl von Vorbildern und Beispielen auf imaginative Standpunktwechsel im Gegensatz zu tatsächlichem Austausch zurückgreift. Die Problematisierungen intersubjektiver Einbildungskraft richten sich dabei nicht gegen Arendts Urteilslehre an sich, sondern sollen darauf hinweisen, was über Arendt hinaus zu jenem Aspekt der Beispielwahl zu sagen ist. Interpretatorische Fragen, die sich nicht zuletzt aufgrund der fragmentarischen Texte zum Urteilen ergeben, werden dabei indirekt mitverhandelt.1

Einbildungskraft oder Imagination, wie ich sie im Folgenden bei Arendt rekonstruiere, verstehe ich als Vorstellungsvermögen, dessen nachbildender Gebrauch hier im Vordergrund steht2 und das im Zusammenhang mit moralischen Entscheidungsprozessen eingesetzt werden kann (Biss 2014, 5f.). Es geht also um den Gebrauch von Vorstellungen, die sich an Realitätsbedingungen halten und Orientierung in der Welt geben sollen.3 Ich betrachte zudem die Einbildungskraft als Vermögen einzelner Menschen, das jedoch in soziale Zusammenhänge eingebettet und dadurch geformt ist (vgl. Kind 2024, 55).

Mit Beispielen sind in diesem Aufsatz vorbildhafte Beispiele für gutes Leben oder gutes Handeln gemeint, also solche, die einem normativen Typus von Beispielen zugeordnet werden können (Ruchatz et al. 2007).4 Mit ihnen lassen sich moralische Ansprüche ausdrücken und sie implizieren die Behauptung, dass die beispielhaften Personen jene Ansprüche gut, also exemplarisch verdeutlichen (Summa/Mertens 2022, viif.). Allerdings geht es mir nicht um die motivierende und inspirierende Wirkung von Vorbildern (hierzu siehe Beran 2021, Naumann 2020), sondern darum, wie sie überhaupt zu ihrer normativen und exemplarischen Rolle kommen. Unter Rekurs auf Arendts Konzeption des Urteilens mit exemplarischer Gültigkeit werde ich vorschlagen, vorbildhafte Beispiele als Ergebnisse solchen Urteile zu verstehen.

Zunächst rekonstruiere ich Arendts Konzeption des Urteilens mit exemplarischer Gültigkeit und bespreche die Frage, inwiefern die Einbildungskraft in einer intersubjektiven Dimension für das Verständnis von Exemplarität wichtig ist (2.). Im Anschluss diskutiere ich, wie sich soziale Situiertheit auf diese Dimension auswirken kann und welche Probleme für die Wahl von Vorbildern dadurch entstehen können. Dabei sollen drei Aspekte vertieft und im Hinblick auf systematische Fragen zur Rolle der Einbildungskraft bei der Wahl von Beispielen diskutiert werden: die ungleiche Repräsentation fremder Standpunkte in der Vorstellung (3.), Projektionen im Imaginationsvorgang (4.) sowie die Frage, ob und wie die Wahl von Beispielen darüber hinaus soziale Zugehörigkeiten mitverhandelt (5.). Schließlich halte ich Ergebnisse zu Bedingungen und Anhaltspunkten eines gelingenden Gebrauchs intersubjektiver Einbildungskraft fest (6.).5

2 Eine intersubjektive Dimension der Einbildungskraft

Einbildungskraft scheint im Zusammenhang mit Exemplarität zunächst einmal wichtig, um sich konkrete Beispiele vorstellen zu können. Schließlich sind diese selten permanent präsent. Angenommen, Margaret Atwood ist mit ihrer feministischen Haltung das Vorbild einer Schriftstellerin am Anfang ihrer Karriere, wird diese sich, sofern sie sie nicht persönlich kennt, vorstellen müssen, was Atwood tun oder zur ihr sagen würde. Nicht selten werden Personen auch erst nach ihrem Tod zu Vorbildern. Und selbst der beste Freund, den man tatsächlich gut kennt und dessen Umgang mit Konflikten man beispielhaft findet, ist nicht immer persönlich zur Stelle. Das Zwiegespräch mit einer imaginierten Person kann also durchaus hilfreich sein. Allerdings kann die Einbildungskraft hier auch an Grenzen stoßen und einseitig festlegen, wen man sich als Vorbild vorstellen kann. Dieses Problem beschreibt Johny Pitts in seiner Reportage über Schwarze Europäer:innen: Am Brüsseler Bahnhof trifft er auf zwei weiße Studierende, beide jünger als er selbst. Einer der beiden erzählt ihm selbstbewusst, er wolle Auslandskorrespondent für einen öffentlichen Sender werden. Pitts überlegt, was dieses Selbstbewusstsein ermöglicht, das er selbst nicht spürt, und kommt zu dem Schluss: „Wahrscheinlich, dass alle Belgien-Korrespondenten, die er [der Student, J.S.] je im Fernsehen gesehen hatte, genauso aussahen und sprachen wie er.“ (Pitts 2021, 114).

Diese Szene legt nahe, dass Einbildungskraft vor allem deshalb für die Beispiele, die wir uns wählen, relevant ist, weil sie bestimmt, welche Beispiele überhaupt vor dem inneren Auge erscheinen. Die Einbildungskraft ist dann grundsätzlich ein Vermögen, das einen Bezug zu einem Objekt ermöglicht, das nicht direkt wahrgenommen werden kann (Kind 2024, 58).

Ohne den direkten Bezug zwischen Einbildungskraft und Beispielen in Abrede zu stellen, lässt sich aber noch ein weiterer Aspekt der Einbildungskraft bei der Wahl von Vorbildern und Beispielen besprechen. Zunächst lässt er sich aus der Alltagserfahrung rekonstruieren: Wenn ich ein Vorbild wähle, stelle ich mir schließlich auch vor, was andere von meiner Wahl halten, welche Vorbilder sie sich wählen würden oder was sie vermutlich für beispielhaft halten. Eine Schriftstellerin wird sich Margaret Atwood und ihre feministische Haltung eher zum Vorbild nehmen, wenn sie der Ansicht ist, dass die Menschen, deren Urteil ihr wichtig ist, Atwood schätzen oder dass sie sie zumindest schätzen würden, wenn sie sie kennen würden. Es mag idiosynkratische Beispiele geben und Vorbilder können eine besondere persönliche Relevanz haben (z. B. weil sie einem in biographischen Details besonders ähnlich sind), aber wenn sie als exemplarisch gelten sollen, müssen sie aus Sicht der sie Wählenden auch allgemein anerkannt oder anerkennungswürdig sein.

Sowohl die grundsätzliche Bestimmung der Einbildungskraft als Vergegenwärtigungsvermögen als auch ihre Ausrichtung auf die Urteile anderer lassen sich in Arendts Konzeption des Urteilens im Anschluss an Kant wiederfinden. Die Einbildungskraft bestimmt Arendt dort zunächst als das „Vermögen, Abwesendes gegenwärtig zu haben“ (Arendt 2012, 104)6, sich also nicht vorhandene Gegenstände bzw. nicht anwesende Personen vorstellen zu können (Kant, KrV, B151). Der Kontext, in dem Arendt dieses Vermögen bespricht, sind reflektierende Urteilsvorgänge. Bei dieser von Kant übernommenen Urteilsform geht es darum, Gegenstände oder Phänomene einzuordnen, die keinen bisher bekannten Kriterien entsprechen. Es handelt sich nach Arendt um Urteile mit exemplarischer Gültigkeit: Der Urteilsgegenstand wird zum Beispiel für eine allgemeine Regel, ohne diese direkt zu erklären (Arendt 2012, 118f.). Arendt hebt hervor, dass die Urteilsfindung auf Grundlage einer Vorstellung einen entscheidenden Vorteil mit sich bringt. Die innere Vergegenwärtigung durch die Einbildungskraft schaffe eine nötige Distanz zu möglichen verzerrenden empirischen Wahrnehmungsfaktoren und ermögliche damit ein besseres Urteil:

Nur das, was einen in der Vorstellung berührt, affiziert, und zwar dann, wenn man nicht mehr durch seine unmittelbare Gegenwart affiziert wird (…), nur das läßt sich als richtig oder falsch, wichtig oder irrelevant, schön oder häßlich oder irgendwo in der Mitte zwischen den jeweiligen Polen liegend beurteilen (…), weil man nun (…) mittels der Vorstellung den angemessenen Abstand hergestellt hat (…). (Arendt 2012, 104; Hv. J.S.).

Arendt hält, anders als Kant, diese Urteilsform für auf moralische und politische Fragen anwendbar.7 Auf diese Weise können für sie auch exemplarische Urteile über Tugenden anhand von Vorbildern gefällt werden. Sie gibt hierfür das Beispiel des Mutes von Achilles sowie der Güte Jesu an (2012, 119, 128).

Für die Frage, an welchen Kriterien sich solche exemplarisch gültigen Urteile orientieren sollen, führt Arendt die „Mitteilbarkeit“ an (2012, 108): Reflektierende Urteile müssen sich daran ausrichten, wozu andere zustimmen könnten. Anstelle objektiver Kriterien, d.h. begrifflicher Definitionen, tritt dann für exemplarische Urteile ein intersubjektives Kriterium (2012, 105). Sie greift dafür Kants Einschub zum „sensus communis“ und dessen Maxime der erweiterten Denkungsart auf. In Urteilsvorgängen sei zentral, „vom Standpunkt einer anderen Person aus zu denken“ (2012, 114) und „als ein Mitglied einer Gemeinschaft, geleitet von seinem gemeinschaftlichen Sinn“ zu urteilen (2012, 117; vgl. Kant, AA V, 293f.). Das mache die Operation der Reflexion und damit den eigentlichen Urteilsvorgang aus (Arendt 2012, 106–108, 111). Die intersubjektive Mitteilbarkeit soll also sichern, dass man Beispiele wählt, die tatsächlich exemplarisch sind, und Fragen beantwortbar machen wie: Ist mein positiver Affekt gegenüber dieser Person eine gute Haltung? Sollte mir diese Person als Beispiel dienen? (Arendt 2012, 107). Estrada-Saavedra fasst Arendts Überlegungen wie folgt zusammen:

Insofern sind die Mitmenschen konstitutiv für die Gültigkeit des Urteils (…). Die gemeinsame Wirklichkeit wird (…) vom sensus communis gehütet, denn was die Zustimmung aller nicht erreichen kann, verliert den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. (Estrada-Saavedra 2022, 153)

Der Bezug auf andere und die Mitteilbarkeit begründen also, was als exemplarisch im normativen Sinn gelten kann, d. h. was als gutes Beispiel für einen nicht weiter bestimmten Begriff zählt. Bevor eine Schriftstellerin sich Atwood zum Vorbild nimmt, sollte sie sich Arendt zufolge fragen, ob diese Wahl gegenüber anderen möglichen Perspektiven Bestand hat. Damit erklärt sich auch, ohne dass Arendt dies gesondert diskutiert, eine gewisse Ambivalenz, die vielen Vorbildern anhaftet: Einerseits können sie inspirieren, neue Werte vertretbar machen und Menschen um politische Visionen versammeln, weil sie als exemplarische Figuren etwas begrifflich nicht fassbares, aber intersubjektiv zustimmungsfähiges ausdrücken. Andererseits können Vorbilder Traditionen bewahren und dabei auch durchaus antiquierte Vorstellungen oder fragwürdige Normen aufrechterhalten, weil sie intersubjektiv bekannte Vorstellungen abrufen. Ihr exemplarischer Charakter kann also sowohl progressiv als auch konservativ ausfallen, weil sich beides mit intersubjektiver Mitteilbarkeit vereinbaren lässt.

Interessant ist, dass dieser Prozess des erweiterten Denkens und die Operation der Reflexion wiederum die Einbildungskraft mitbeanspruchen. Arendt verwendet hierfür die Metapher des imaginativen Besuchs:

Die ‚Erweiterung des Geistes‘ (…) wird dadurch erreicht, ‚daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt.‘ Das Vermögen, das dies möglich macht, wird Einbildungskraft genannt. (…) [D]urch die Einbildungskraft macht es [kritisches Denken, J.S.] die anderen gegenwärtig und bewegt sich damit in einem Raum, der potentiell öffentlich, nach allen Seiten offen ist (…) Mit einer ‚erweiterten Denkungsart‘ denken heißt, daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen. (Arendt 2012, 68; Hv. J.S.)

Weil Arendt hier Kant referiert (AA V, 294), lässt sich fragen, ob und wie sehr sie selbst diesen intersubjektiven Abgleich als einen imaginativen Prozess verstehen möchte. Da sie diesen Einsatz der Einbildungskraft nicht zurückweist, scheint sie es zumindest für möglich zu halten, dass die Prüfung der Mitteilbarkeit auch imaginativ durchgeführt werden kann. Wenn ein Beispiel gewählt wird, indem es aus imaginierten anderen Standpunkten betrachtet und schließlich als vorbildhaft beurteilt wird, entstehen jedoch spezifische Schwierigkeiten bezüglich dieses imaginativen Anteils. Drei davon werden im Folgenden diskutiert, wobei einiges aus Arendts Position und der Kritik daran abgeleitet werden kann.

3 Die Repräsentation von Standpunkten

Eine wichtige Folge von Arendts Konzeption exemplarisch gültiger Urteile ist, dass diese keine objektiv bestimmbare Antwort liefern, sondern sich anhand einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung ergeben. So hält Arendt fest:

Die Geltung dieser Urteile ist niemals die gleiche wie die von Erkenntnis- oder wissenschaftlichen Aussagen (…). Gleichermaßen können wir niemals jemanden zwingen, mit unseren Urteilen: ‚das ist schön‘ oder ‚Das ist falsch‘ übereinzustimmen. (…) Man kann allenfalls einem anderen die Zustimmung ansinnen oder um sie ‚betteln‘. Und bei dieser Überzeugungstätigkeit appelliert man an den ‚gemeinschaftlichen Sinn‘. Mit anderen Worten: Wenn man urteilt, urteilt man als ein Mitglied einer Gemeinschaft. (Arendt 2012, 112)

Damit verbunden ist die Frage bezüglich des „repräsentativen“ Charakters dieses erweiterten Denkens, also welche und wie viele Perspektiven für ein ausgewogenes Urteil berücksichtigt werden müssen. Zerilli stellt fest: „Arendt’s formulations waver somewhat on the scope of the people whose perspectives need to be taken into account.“ (Zerilli 2016, 8).

Einerseits grenzt Arendt sich von Kant ab, der den Prozess des erweiterten Denkens nur als ein Mittel zur Erreichung eines „allgemeinen Standpunkts“ einführt (AA V, 295). Arendt sieht das Urteilen als gesellschaftlichen Prozess, wie ihre Bemerkung, man urteile stets als Mitglied einer Gemeinschaft, zeigt. Das bedeutet auch, dass ein exemplarisches Urteil nur für eine bestimmte Gemeinschaft gelten kann und Beispiele nur innerhalb dieser Gemeinschaft sinnvoll verstanden werden können (Beiner 2012, 152, Zerilli 2022, 411). Dies macht Arendt in Bezug auf Napoleon und den Begriff des Bonapartismus deutlich: „Die Gültigkeit dieses Beispiels wird auf diejenigen beschränkt bleiben, die die besondere Erfahrung ‚Napoléon‘ besitzen, entweder als seine Zeitgenossen oder als Erben dieser besonderen historischen Tradition.“ (Arendt 2012, 128).

Auch die schon zitierte Stelle zum mutigen Achilles lässt sich mit einer gewissen Betonung auf die Gruppe derer, denen er als Beispiel dienen kann, lesen:

Wie zum Beispiel ist man fähig, eine Tat als mutig zu beurteilen, einzuschätzen? (…) Wenn man ein Grieche wäre, hätte man ‚in den Tiefen seines Gemüts‘ das Beispiel des Achilles. (…) Wenn wir von jemandem sagen, daß er gut ist, haben wir in unserem Gedächtnis das Beispiel des hl. Franziskus oder des Jesus von Nazareth. (Arendt 2012, 128; Hv. J.S.)

Eine anzuerkennende Folge der exemplarischen Gültigkeit von Beispielen ist dann, dass diese mit der Zeit ihre Aussagekraft verlieren können. Dies betrifft auch Arendts eigene Beispiele des heiligen Franziskus oder des mutigen Achilles, die für einige heutige Leser:innen schon nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar sein dürften. Insofern ist eine wichtige Bedingung, dass es keine vollständige Repräsentation aller möglichen Perspektiven in der Einbildungskraft und im Urteilsprozess geben kann und muss, weil die Pluralität menschlicher Perspektiven, zumal in historischer Hinsicht, dies ausschließt. Urteile über Exemplarität bleiben verhandelbar.

Andererseits äußert Arendt den Anspruch, dass beim Standpunktwechsel möglichst viele Perspektiven berücksichtigt werden sollten (Zerilli 2016, 38). In ihrer Vorlesung Über das Böse verweist sie darauf, „daß mein Urteil umso repräsentativer sein wird, je mehr Standpunkte anderer Leute ich mir in meinem Denken vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtigen kann.“ (Arendt 2016, 143). Dies ist nachvollziehbar, wenn Mitteilbarkeit das Kriterium für ein Urteil und für die Exemplarität eines Beispiels ist. Und auch für Arendts weiteres Ziel, die Welt als politisch verhandelbar zu begreifen, denn es keinen allgemeinen Standpunkt gibt, scheint der Einbezug vieler Perspektiven sinnvoll und für den Gültigkeitsanspruch eines Urteils mitentscheidend. Dabei geht es nicht um die Erhebung von Mehrheitsmeinungen oder einen Interessenausgleich, sondern um qualitativ verschiedene Perspektiven auf ein Phänomen oder Beispiel (Zerilli 2016, 141f.).

Allerdings nennt Arendt ebenfalls ein normatives Ausschlusskriterium. Voraussetzung für den imaginativen Standpunktwechsel sei, dass die anderen ebenfalls urteilten:

Wenn ich auch bei meinem Urteilen Andere berücksichtige, so sind doch nicht Alle eingeschlossen. Kant sagt explizit, daß sich die Gültigkeit solcher Urteile nur ‚über die ganze Sphäre der Urteilenden‘ ausdehnen kann, also auf Leute, die auch urteilen. Um es anders auszudrücken: Jene, die sich weigern zu urteilen, dürfen die Gültigkeit meines Urteils nicht in Frage stellen. (Arendt 2016, 142f.)8

Diese Passage muss kontextualisiert werden: Es geht Arendt um die Gefahr der Gleichgültigkeit, die zu den Verbrechen des Nationalsozialismus beigetragen habe und die vielzitierte Banalität des Bösen ausmacht. Schlimmer als schlecht Urteilende seien für die Gesellschaft daher jene, die sich eines eigenen Urteils verweigerten (2016, 149f.). Sie geht davon aus, dass prinzipiell alle urteilen können und alle Urteile prinzipiell gehört und ernst genommen werden – sodass niemand sich der Pflicht politischer Auseinandersetzung entziehen sollte.

Folgt man Arendt sowohl in der Konzeption, dass Beispiele und exemplarisch gültige Urteile an bestimmte Gemeinschaften gebunden sind, als auch in dem Anspruch, dabei möglichst viele verschiedene Perspektiven zu integrieren, ist es sinnvoll, sich mögliche Beschränkungen durch soziale Situiertheit bewusst zu machen. Diese können nämlich auch ins Spiel kommen, insofern der Urteilsprozess imaginativ geschieht. Zunächst betrifft das den schon von Arendt selbst genannten historischen und kulturellen Horizont, in dem Beispiele stehen. Wie oben gezeigt, handelt es sich dabei um eine Grundbedingung, nicht um ein Problem. Ohne das Wissen um diese Bedingung kann aber durchaus ein Problem entstehen. Denn bevor historischer Abstand Beispiele als sozial bedingt sichtbar macht, können sich Menschen über die Repräsentativität ihrer Urteile täuschen, insbesondere wenn sie sie mithilfe ihrer Vorstellungskraft fällen und diese nachbildend funktioniert. Die Repräsentationsmöglichkeit der anderen ist dann durch die Reichweite der eigenen Imagination begrenzt und diese wiederum durch die ihr bekannten realen Standpunkte. Die Reflexion kann so leicht zu dem Schluss kommen, dass viele verschiedene Perspektiven berücksichtigt wurden, weil die Einbildungskraft bereits alles repräsentiert, was sie zur Verfügung hat. Ein Vorbild scheint dann universale Zustimmung zu finden, aber nur weil wenige bekannte Standpunkte bereits für alle möglichen Standpunkte gehalten werden. Das Wissen um die prinzipiell begrenzte Gültigkeit von Exemplaritätsurteilen ist also wichtig, um unbedachten Universalisierungen entgegenzuwirken, da die Einbildungskraft ihre Begrenztheit nicht selbst in ihren Repräsentationen deutlich macht.

Neben historisch und kulturell bedingten Kenntnissen können auch grundlegende Normen die imaginative Repräsentation von Perspektiven begrenzen. Wie weit Menschen in der Lage sind, sich von eigenen moralischen Überzeugungen abweichende Einstellungen vorzustellen, ist unklar, wie Phänomene imaginativen Widerstands zeigen (Gendler 2000, Tuna 2024). Dies ist nicht per se ein Mangel, da sich dieser Widerstand auch gegen unhaltbare, z. B. menschliches Leben verachtende Perspektiven richten kann. Allerdings wird hier deutlich, dass die Einbildungskraft normative Ausschlüsse von Perspektiven vornimmt. Denn sie trifft eine Entscheidung darüber, welche Perspektiven als bedenkenswert erscheinen und welche aufgrund moralischer Bedenken aus dem imaginativen intersubjektiven Abgleich ausgeschlossen bleiben sollten. Dabei wäre durchaus möglich, dass Menschen die moralischen Perspektiven anderer als uneinnehmbar erscheinen, obwohl diese eine Berechtigung haben. Das zeigen die Geschichten sozialer Bewegungen: so ist die Ehe für alle keineswegs ein Beispiel, das selbstverständliche intersubjektive Zustimmung findet (Zerilli 2005, 182f.), sondern galt vielen Menschen lange Zeit als moralisch „unvorstellbar“ und die befürwortenden Perspektiven mussten erst mühsam etabliert werden.9

Weiterhin wäre zu überlegen, ob die Einbildungskraft den Perspektiven derjenigen, die man sehr gut kennt und persönlich schätzt, mehr Gewicht einräumt. Die Perspektive einer guten Freundin, Familienangehörigen oder Kolleg:in zu übernehmen, auch wenn sie von der eigenen abweicht, übt man im Alltag. Hinzu kommt, dass einem diese Perspektiven in vielen Fällen wichtiger sein dürften als mögliche andere, weil man mit ihnen auch real konfrontiert werden kann oder der Beziehung über die Wertschätzung von Perspektiven Rechnung tragen möchte. Das mögen gute Gründe für eine solche Bevorzugung sein; die Bandbreite der Perspektiven, die die Einbildungskraft repräsentiert, wird damit dennoch geschmälert, ohne dass dies für die urteilende Person transparent oder vorteilhaft sein muss. Schließlich könnten auch unbewusste psychologische Bedingungen wie ein imaginativer confirmation bias oder die Auswirkungen von Persönlichkeitsmerkmalen wie eines starken oder schwachen Selbstbewusstseins weitere Einschränkungen für die intersubjektive Imagination darstellen.

Wie die bisherigen Überlegungen bereits andeuten, sind diese Rahmenbedingungen zudem von einem Problem der Verzerrung betroffen, das durch öffentliche Repräsentation, gesellschaftliche Strukturen und dadurch bedingte Imaginationsgewohnheiten entsteht. Urteile mit exemplarischem Anspruch werden schließlich nicht nur von einzelnen Personen in einem zurückgezogenen Prozess gefällt, sondern auch in öffentlichen Auseinandersetzungen. Über Vorbilder wird gesellschaftlich kommuniziert, ob in politischen Diskussionen, Bildungskontexten oder in der Unterhaltungsindustrie. Hier stößt Arendts Voraussetzung, dass niemand sich dem Urteilen entziehen solle, an eine Grenze. Denn vor dem Hintergrund feministischer Epistemologien lässt sich infragestellen, dass Menschen gesellschaftlich gleichermaßen als souveräne wissens- und urteilsfähige Subjekte anerkannt werden. Es könnte schließlich sein, dass die „Leute, die auch urteilen“ dies von bestimmten sozialen Positionen aus tun, die ihnen dies erst ermöglichen, während andere als Urteilssubjekte nicht gesehen werden (vgl. Hoppe/Vogelmann 2024, 29–33). Wenn sich diejenigen, die in öffentlichen Zusammenhängen gesellschaftliche Fragen beurteilen, aus bestimmten sozialen Gruppen zusammensetzen, liegt es nahe, dass die Einbildungskraft ihre imaginative Urteilsgemeinschaft ähnlich zusammensetzt und sich dies zur Gewohnheit macht. Nimmt man zusätzlich an, dass diese subjektiven und sozialen Prägungen keine beliebigen sind, sondern gesellschaftliche Ungleichheiten widerspiegeln, dass also bestimmte Standpunkte und Sichtweisen auf die Welt bekannter sind als andere, dann besteht das Problem darin, dass der Besuch der Einbildungskraft wahrscheinlich stärker bei diesen dominanten Perspektiven stattfindet. Wenn Expert:innenkommissionen, aber auch Talkshows, Podien und Formate der Kunstkritik etwa überwiegend männlich, weiß oder wohlhabend besetzt sind und dadurch bestimmte Kriterien der Urteilsfindung im Vordergrund stehen, ist es wahrscheinlich, dass gewählte Beispiele ebensolchen Perspektiven und ihren Kriterien zur imaginativen Beurteilung ausgesetzt werden. Öffentliche Repräsentation formt also die „Sphäre der Urteilenden“ mit. Während Arendt die Frage, wer dazu zählt und zählen kann, aus gutem Grund mit dem Entschluss der Einzelnen beantwortet, sollte man hier auch berücksichtigen, aufgrund welcher anderen Faktoren Standpunkte überhaupt als Standpunkte des Urteilens aufgefasst und auch repräsentiert werden, sowohl in Bezug auf die Form des Urteilens – Gehören dazu bestimmte, etwa besonders selbstsichere Auftritts- und Ausdrucksweisen? – als auch in Bezug auf konkrete inhaltliche Positionen.

4 Standpunktwechsel, Empathie und Projektion

Der zweite Aspekt, der für Überlegungen zur Rolle intersubjektiv eingesetzter Einbildungskraft und damit verbundenen Schwierigkeiten, relevant ist, betrifft den genauen Vorgang des imaginativen Standpunktwechsels. Arendt verwendet in den Urteilsvorlesungen die oben genannte Metapher: „Mit einer ‚erweiterten Denkungsart‘ denken heißt, daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen.“ (Arendt 2012, 68). Welcher Art sind diese Besuche genau? Ob und wie sehr Arendt den Standpunktwechsel für wesentlich imaginativ hält, wird unterschiedlich interpretiert, ebenso, wie dies zu bewerten ist und um was für einen Imaginationsvorgang es sich genau handelt. In den Schriften, die sich mit Kant beschäftigen, bleibt Arendt relativ nah an dessen Vorschlag eines imaginativen Prozesses und erläutert, dass dieser eine Befreiung von privat bedingten Sichtweisen ermögliche: „Diese Art repräsentativen Denkens fordert gewisse Opfer. Kant sagt: Wir müssen sozusagen um der Anderen willen auf uns verzichten (…)“ (2016, 143). Ähnlich verweist Rebentisch darauf, dass die erweiterte Denkungsart bei Arendt im historischen und philosophischen Kontext ihrer Zeit bedeute, „gerade auch in der Einsamkeit des die eigenen Meinungen überprüfenden Denkprozesses noch auf die Welt und die sie auszeichnende Pluralität hin orientiert zu bleiben“ (Rebentisch 2022, 17).10 Damit wäre auch ein systematisches Argument für imaginative Standpunktwechsel als Lösung für Probleme unzureichender Repräsentation gegeben: Sie sind ein hilfreiches Mittel, um die eigene Perspektive zu verlassen und weitere Standpunkte in das eigene Urteil einzubeziehen.

Allerdings lassen sich weitere Zweifel daran äußern, dass gerade ein imaginativer Vorgang zur Berücksichtigung anderer Perspektiven führen kann. Viel hängt dabei von den Fragen ab, wie der imaginative Standpunktwechsel genau zu verstehen ist und wie er durch tatsächliche Begegnungen ergänzt wird. Zur ersten Frage gibt Arendt genauere Hinweise. Sie bemerkt in einer Passage, die allerdings auf Kant bezogen ist, dass es nicht um Empathie und das Nachvollziehen tatsächlicher Meinungen gehe:

Der Trick beim kritischen Denken liegt gerade nicht in einer außergewöhnlich erweiterten Empathie (…). Das anzunehmen, was in den Köpfen derjenigen, deren ‚Standpunkt‘ nicht der meinige ist, vor sich geht (wobei Standpunkt genauer meint: der Platz, auf dem sie stehen; die Bedingungen, denen sie unterworfen und die immer unterschiedlich sind, von Individuum zu Individuum, von einer Klasse oder Gruppe zur anderen) – solches Akzeptieren würde nichts anderen bedeuten, als passiv ihre Gedanken anzunehmen, d.h. ihre Vorurteile gegen die meinem eigenen Platz entsprechenden auszutauschen. (Arendt 2012, 69).

Zunächst einmal ist hier festzuhalten, dass Arendts Verständnis eines Standpunktes generell mit dem Verständnis übereinzustimmen scheint, das in feministischen Ansätzen zu situierten Perspektiven besteht: sich in einer visuellen Metapher ausdrückende soziale und individuelle Bedingungen, gegenüber denen Subjekte sich nicht völlig souverän verhalten können, und die ihre Sichtweise prägen. Offenbar geht es ihr gerade deshalb nicht um die empathische Übernahme solcher Standpunkte, sondern um ihren Einbezug in eine vermittelnde Position.11 Über den Vergleich von Standpunkten könne man zu einem größeren Spielraum des Denkens gelangen, das so „allgemeiner“ werden könne (2012, 69). Zerilli plädiert daher dafür, die Hinweise auf die spezielle Rolle der Imagination beim Standpunktwechsel sehr ernst zu nehmen:

Imagination mediates: it moves neither above perspectives, as if they were something to transcend in the name of pure objectivity, nor at the same level as those perspectives, as if they were identities in need of our recognition. Rather, imagination enables ‘being and thinking in my own identity where actually I am not.’ (Zerilli 2005, 175f.)

Arendt erläutert diesen Vorgang zudem an einem Beispiel in ihrer Ethik-Vorlesung. Sie stelle sich „ein bestimmtes Wohnhaus in einem Slum“ vor und komme zu dem Schluss, es sei ein Leben in Armut und Elend:

Ich komme zu dieser Vorstellung, indem ich mir vergegenwärtige, wie ich mich fühlte, wenn ich dort leben müßte, das heißt, ich versuche an der Stelle des Slum-Bewohners zu denken. Das Urteil, das ich fälle, wird keineswegs notwendigerweise dasselbe sein wie das der dort Lebenden, welche gegenüber ihrer Lebenssituation mit der Zeit und durch Hoffnungslosigkeit stumpf geworden sein mögen (…). (Arendt 2016, 142)

Es geht also um einen Imaginationsvorgang, der auf der Versetzung der eigenen Wahrnehmung in eine für sie fremde Situation basiert, wobei aber eigene Wertmaßstäbe beibehalten werden. Hier ist eine Unterscheidung der analytischen Debatte um Empathie hilfreich. Dort werden zwei Arten imaginativer intersubjektiver Perspektivübernahme unterschieden (Coplan 2011, 9–15): „Self-orientend perspective-taking“ bezeichnet einen imaginativen Standpunktwechsel, bei dem die eigene Perspektive sozusagen mitgenommen wird, indem wir uns vorstellen, „wie es ‚für uns‘ wäre, in der Situation des anderen zu sein.“ (Vendrell Ferran 2024, 314; vgl. Werner 2024, 34). Dagegen geht es bei einem „other-oriented perspective-taking“ gerade nicht darum, wie es für einen selbst wäre, sondern wie es für eine bestimmte andere Person ist, in genau ihrer Situation zu sein. Wenn die zweite Art des imaginierten Standpunktwechsels gelingen soll, die als Empathie im engeren Sinn bezeichnet wird, muss ein Bewusstsein für die Differenz der eigenen und der anderen Person aufrechterhalten werden (Coplan 2011, 15–17, Vendrell Ferran 2024, 314).

Interessanterweise scheint Arendt genau diese Unterscheidung im obigen Zitat ebenfalls zu treffen und dabei den ersten, selbstorientierten Perspektivwechsel anzustreben. Schließlich verwendet sie ebenjene Formulierung, dass es darum gehe, wie das Leben in diesem Haus für sie im Gegensatz zu der tatsächlich betroffenen Person wäre, und dass es sich dabei um zwei verschiedene Urteile handeln könnte. Erstaunlich ist dies nicht nur, weil der Verweis so deutlich scheint, sondern auch weil diese Art der Perspektivübernahme in der aktuellen Debatte stärker kritisiert wird. Vielen gilt sie als bloße Projektion, bei der eigene Voraussetzungen auf andere Perspektiven übertragen und die fremde Perspektive gerade nicht eingenommen wird (Coplan 2011, 10f, 15f.). Die normativen Unterschiede zwischen Arendt und der analytischen Theorie erklären sich in Teilen dadurch, dass unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Im analytischen Kontext geht es vor allem um die Erklärung von Fremdverstehen und Empathie, nicht um Urteilsfindung. Unabhängig von der Frage, ob Arendt tatsächlich dieselbe Unterscheidung meint und das selbst-orientierte Verfahren den Kern des intersubjektiven Reflexionsprozesses in ihrer Theorie ausmacht, lässt sich das Problem der Projektion in systematischer Hinsicht weiterverfolgen, wenn es um die Wahl von Beispielen geht. Arendts Beispiel suggeriert, dass Blicke von außen der Innenperspektive überlegen wären und die tatsächlichen Perspektiven anderer für das Urteil letztlich irrelevant oder fehleranfällig seien.

Erstens lässt sich mit Theorien situierten Wissens einwenden, dass die tatsächlichen Standpunkte anderer eben nicht nur von ihren eigenen Vorurteilen geprägt sind, sondern auch durch spezifisches Wissen. Die feministische Kritik am Objektivitätsbegriff zeigt, dass dieses spezifische Wissen gerade nicht imaginativ zugänglich ist und bestimmte Perspektiven daher lange Zeit in der Wissenschaft nicht sichtbar waren oder es weiterhin nicht sind (Haraway 2024, Harding 2024).12 Mit Arendt ließe sich hier einwenden, dass Objektivität bei der Wahl von Vorbildern kein Ziel ist. Allerdings ist dieses situierte Wissen deshalb noch nicht irrelevant für ein Urteil und die Wahl von Beispielen. Vielmehr umfasst es auch wertende und emotionale Einstellungen und ist Ausdruck jener pluralen Perspektiven, die in ein exemplarisches Urteil einfließen sollen, damit es intersubjektiv verankert ist.

Zweitens lassen sich ethische Vorbehalte gegenüber selbst-orientierten imaginativen Perspektivwechseln anschließen. Young gibt, innerhalb der Arendt-Rezeption, Folgendes zu bedenken: Wenn die Einbildungskraft ihr empirisch unbekannte Vorstellungen aufrufe, komme man schnell zu Bewertungen, die mit Erfahrungen betroffener Personen wenig zu tun hätten. So stellten sich viele Menschen ohne Behinderung ein Leben mit körperlicher Behinderung deutlich schlimmer und verzweifelter vor als die behinderten Personen dies erlebten. Ähnliches gelte für romantisierte Vorstellungen indigener Lebensweisen oder das Unverständnis gegenüber Opfern sexueller Gewalt, die auf Anzeigen verzichteten (Young 2001, 208–210). Young deutet an, dass eine imaginative Perspektivübernahme in dieser Art nicht nur zu falschen Ergebnissen kommen, sondern übergriffig und respektlos sein kann. Arendts Slum-Beispiel drückt zwar keine Romantisierung oder Unverständnis für Leid aus, könnte aber als Respektlosigkeit empfunden werden, denn sie wertet die Urteilskompetenz der Betroffenen durch die Vermutung ab, sie könnten abgestumpft sein und daher ihre eigene Realität nicht mehr richtig einschätzen (Pavlik 2014, 147). Für die Wahl von Vorbildern sind ähnliche Projektionen denkbar: Eine Person ohne Behinderung könnte sich eine Person mit Behinderung zum Vorbild wählen, gerade weil sie von deren aus ihrer Sicht überraschendem und bewunderswertem Optimismus beeindruckt wäre und sich beim Standpunktwechsel vorstellt, um wie viel mehr andere behinderte Personen dieses Vorbild teilen müssten. Damit kann sie die Erfahrungsrealität sowohl des Vorbilds als auch der imaginierten Urteilsgemeinschaft mit Stereotypen überladen und dies auch nach außen tragen, ohne dass ihr dies bewusst wird. Young selbst fasst ihre Kritik an imaginativen Standpunktwechseln wie folgt zusammen: „[T]he idea of taking the standpoint of all the others presumes the possibility of an identification among us all (…). (…) this assumption of reversibility tends to collapse the difference between subjects.“ (Young 2001, 223).

In Bezug auf die zweite Frage, wie intersubjektive Einbildungskraft durch reale Begegnungen ergänzt werden sollte, ist Arendts Position interpretationsabhängig. Youngs Kritik richtet sich letztlich nicht gegen Arendt, sondern zielt auf eine andere, reale Begegnungen einschließende, Arendt-Interpretation.13 Verstehe man Arendts Urteilen wesentlich imaginativ, werde man aufgrund der genannten Schwierigkeiten ihrem Anspruch der Anerkennung menschlicher Pluralität nämlich nicht gerecht. Zerilli räumt die Möglichkeit und Nützlichkeit realen Austauschs ebenfalls ein und auch Benhabib sieht Arendts Abweichung von Kant gerade darin, „daß ‚sich an die Stelle jedes anderen zu versetzen‘ vielmehr erfordert, so an einer öffentlichen Kultur beteiligt zu sein, daß jeder andere wirklich zum Ausdruck bringen kann, was er denkt und worin seine Meinungen bestehen“ (Benhabib 1987, 547). Demgegenüber gehen andere Interpretinnen davon aus, dass dies bei Arendt selbst nicht angelegt ist, und kritisieren sie gerade aus diesem Grund, so etwa Disch:

[Arendt] necessarily presupposes that a single person can imaginatively anticipate each one of the different perspectives that are relevant to a situation. It is this presupposition that (…) effects an erasure of difference. (…) Visiting is a temporary change of place, a liminal state that is at once exciting, disorienting, and uncomfortable because it is an encounter with the unfamiliar. (Disch 1994, 168).

Esser hält ebenfalls in direkter Kritik an Arendt die Einbildungskraft beim Standpunktwechsel für „möglicherweise vorurteilsgeprägt“ und gibt zu bedenken, dass die „Besuche der Einbildungskraft (…) möglicherweise eben in den Idealen der eigenen Klasse gefangen bleiben“ (Esser 2017, 992). Sie plädiert deshalb dafür, möglichst viel realen Austausch zu suchen:

[D]er in der erweiterten Denkungsart angestrebte Gemeinsinn (…) kann sich meines Erachtens allein in gemeinsamen Erfahrungen herausbilden, in denen nicht wir mit unserer möglicherweise vorurteilsgeprägten Einbildungskraft uns die Perspektiven Anderer bloß vorstellen, sondern in denen sich diese Perspektiven uns auch tatsächlich aufdrängen und zu einem realen Austausch oder Umgang zwingen. (Esser 2017, 992f.)14

Die Frage, ob die Einwände gegen (selbstorientierte) imaginative Standpunktwechsel Arendt überhaupt und zu Recht treffen, ist ohne ausführlichere Diskussion ihrer Schriften hier nicht zu entscheiden. Gegenteilige Texthinweise wären hier genauer zu untersuchen, etwa wenn sie in Über das Böse auch festhält: „Die Gültigkeit des Gemeinsinns erwächst aus dem Umgang mit Leuten“ (Arendt 2016, 143).

Für die Frage nach der Rolle intersubjektiver Einbildungskraft bei der Wahl von Beispielen, ist interessant, dass ungeachtet der unterschiedlichen Interpretationen systematisch weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass imaginative Standpunktwechsel in selbstorientierter Form anfällig für epistemisch wie auch ethisch problematische Projektionen sind. Die (nachbildende) Einbildungskraft kann allein keine Momente der Überraschung und des produktiven Unverständnisses generieren, die in der realen Konfrontation mit fremden Perspektiven auftreten und für das Erlernen neuer Sichtweisen wichtig sein können. Standpunktwechsel scheinen deshalb dem Urteilsprozess eher zu dienen, wenn sie realen Austausch einbeziehen.

5 Beispiele als Mittel der Verhandlung sozialer Zugehörigkeiten

Ein dritter Aspekt in Arendts Theorie ist für die intersubjektiv eingesetzte Einbildungskraft bei der Wahl von Beispielen interessant, nämlich inwiefern sie über Fragen der Repräsentation hinaus soziale Zugehörigkeiten aufruft. Geht man davon aus, dass in der Imagination nicht alle Perspektiven gleichermaßen und unbeteiligt zur Verfügung stehen, sondern vorwiegend diejenigen, die den Beispielwählenden vertraut sind, werden dort Perspektiven verhandelt, zu denen letztere schon ein bestimmtes soziales Verhältnis haben. Es geht dann auch um die Frage, mit wem man sich gemein macht und von wem man sich abgrenzt, wenn man ein Beispiel wählt.

Ein solcher Zusammenhang von Beispielen und sozialer Zugehörigkeit ist auch bei Arendt selbst zu finden. In ihrer Vorlesung zur Ethik spricht sie von einer unmittelbaren sozialen Bedeutung der Wahl von Beispielen und fordert auch dazu auf, andere anhand ihrer Beispielwahl sozial einzuordnen. Über die Frage, in welcher Gesellschaft und mit welchen anderen Menschen man zusammenleben möchte, sagt sie:

Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt, in Beispielen von toten oder lebenden, wirklichen oder fiktiven Personen und in Beispielen von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammensein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, daß er niemals in unsere Nähe gelangt. (Arendt 2016, 149)

Die Gemeinschaftsfähigkeit anderer zeige sich also auch anhand der Beispiele, die sie sich wählten. Über ihre Vorbilder könnte man sozial gefährliche Tendenzen und umgekehrt vermutlich auch vertrauenswürdige Einstellungen erkennen.15 Beispiele werden demnach nicht nur mithilfe intersubjektiver Imagination gewählt, sie aktivieren sie auch nach ihrer Wahl. Dies geschieht offenbar zum einen in Form eines imaginativen Rückschlusses von bereits gewählten Beispielen auf die Gemeinschaft, die das Beispiel als exemplarisch anerkennt. Denn Arendt lehnt Blaubart (eine Märchenfigur, die mehrere Frauen ermordet) als Beispiel nicht aufgrund eines imaginativen Standpunktwechsels ab, der zu einem repräsentativen negativen Urteil führt – vielmehr unterliegt die Perspektive des Beispielwählenden für sie normativ bereits einem Ausschluss (siehe 3.). Die Äußerung des Beispiels scheint sie zu einer Vorstellung der Gemeinschaft zu veranlassen, die Ritter Blaubart verehrt, und dieser Gemeinschaft möchte sie sich verständlicherweise nicht anschließen. Auf ähnliche Weise warnen heute etwa politische Stiftungen im Rahmen von Extremismusprävention vor Vorbildfiguren, die zur Anwerbung neuer Mitglieder für rechtsextreme Gemeinschaften führen sollen. Analog zu Arendt ist ihre Botschaft: Wenn jemand den „deutschen Frontsoldaten“ oder Influencer:innen wie „Triene“ als Vorbild wählt, gilt es, Abstand zu halten (Ayyadi 2024, van Hüllen 2024). Nicht die Perspektive von anderen, sondern die anderen selbst, ihre Gemeinschaft und Werte, sind hier also Gegenstand der Imagination.

Dass Beispiele auf diese Weise soziale Zugehörigkeit mitverhandeln, eröffnet zum anderen die Möglichkeit, sie zur sozialen Positionierung zu nutzen. Das heißt nicht, dass nur bekannte Beispiele gewählt werden können: Man kann sich dem Mainstream anschließen, um dazuzugehören, aber auch gezielt solche Beispiele wählen, die nicht mit medial repräsentierten Vorbildern übereinstimmen. Allerdings ist damit meist auch die Zugehörigkeitserklärung zu einer anderen Gruppe verbunden, die sich von der Mehrheit oder einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe abgrenzen möchte. Dies kann auch für die Schriftstellerin, die sich Margaret Atwood als Beispiel wählt, das Motiv sein. Möglicherweise möchte sie damit nicht nur ein literarisches oder ethisches Ideal ausdrücken, sondern auch signalisieren, dass sie sich sozial zu feministischen Gruppen zugehörig fühlt. Durch das Erkennen eher unbekannter Vorbilder können sich andere dann ebenfalls als sozial zugehörig positionieren.

Wenn diese Prozesse zumindest zum Teil in der Imagination stattfinden oder dort antizipiert werden, ergibt sich aber, dass unter Umständen weniger tatsächliche soziale Zugehörigkeiten, sondern imaginierte Zugehörigkeiten oder Zugehörigkeiten zu imaginierten Gemeinschaften verhandelt werden. Wenn eine Person von Virginia Woolf als ihrem Vorbild spricht, stellt man sie sich vermutlich spontan in einer anderen gesellschaftlichen Umgebung vor, als wenn sie Greta Thunberg oder Dietrich Bonhoeffer nennt. Die Einbildungskraft schließt dann nicht nur von Beispielen auf normative Überzeugungen, sondern auch auf die soziale Zugehörigkeit zu Gruppen, die sie mit den Beispielen assoziiert. Arendts Blaubart-Beispiel deutet darauf hin, dass Beispiele durchaus nützliche Marker sein können, die soziale Abgrenzung ohne weitere Auseinandersetzung rechtfertigen. Wenn aufgrund von Imaginationen sozialer Zugehörigkeit das Gespräch oder die Diskussion mit anderen vermieden wird, kann dies aber auch Stereotype und falsche Zuschreibungen fördern, die sozialen Austausch verhindern. Zumindest abseits von Extremfällen ist das problematisch. Man könnte zudem argumentieren, dass man gerade denjenigen, der sich Ritter Blaubart zum Beispiel wählt, zur Rede stellen und ihn zu einem Standpunktwechsel anhalten sollte – zumindest, wenn die Situation insgesamt ein politisches Gespräch erlaubt. Die intersubjektive Dimension der Einbildungskraft, die Beispiele mit sozialen Kontexten verknüpft, kann so von der tatsächlichen intersubjektiven Auseinandersetzung um die Frage, was gut, richtig oder in anderer Weise exemplarisch sein soll, ablenken. Wenn Beispiele als Ausdruck sozialer Zugehörigkeit betrachtet werden, ist fraglich, ob der Prozess intersubjektiver Perspektivübernahme noch stattfindet – umso mehr, wenn es sich um Zugehörigkeit zu imaginierten Gemeinschaften handelt, die nicht notwendig mit realen Gemeinschaften zusammenfallen. Das Verhältnis imaginierter und tatsächlicher gesellschaftlicher Gruppen und deren Grenzen müsste dann genauer untersucht werden (vgl. Castoriadis 1990). Selbst eine reproduktiv gedachte Einbildungskraft könnte hier eine gewisse produktive Wirkung entfalten und das reale Handeln ihrer Mitglieder verändern.

Für die Rolle der intersubjektiv gebrauchten Einbildungskraft lässt sich damit festhalten, dass die Orientierungsfunktion von Vorbildern auch als soziale Orientierung zwischen Gruppen verstanden werden sollte. Analysen von Beispielen sollten dann auch fragen, welche Zugehörigkeiten eine Beispielwahl beabsichtigt, schafft oder demonstrativ zurückweist, und wie die Imagination von Zugehörigkeiten die Reaktion auf Beispiele anderer prägt.

6 Fazit

Einbildungskraft ist an der Wahl von Vorbildern und Beispielen und der Einschätzung der Beispiele anderer beteiligt. Die erste These des Aufsatzes lautete, dass Einbildungskraft dabei auch intersubjektiv ausgerichtet ist. Sie dient nicht nur der Vergegenwärtigung der Beispiele selbst, sondern auch der Vergegenwärtigung fremder Perspektiven auf ein Beispiel. Imaginative Standpunktwechsel sind für die Exemplarität der Beispiele mitentscheidend. Im Anschluss an Arendt ist davon auszugehen, dass für ein exemplarisch gültiges Urteil keine vollständige Repräsentation aller möglichen Ansichten möglich und nötig ist, wohl aber eine möglichst ausgewogene Repräsentation angestrebt werden sollte.

Die zweite These des Aufsatzes lautete, dass dabei besondere Schwierigkeiten auftreten können, die sich anhand von Interpretationsfragen zu Arendt erörtern lassen, aber über sie hinausgehen. Es handelt sich dabei zum einen um Fragen der Repräsentation. Da die Einbildungskraft nicht alle möglichen Standpunkte vergegenwärtigen kann, gilt es, sich die Bedingungen bewusst zu machen, die hier eine Rolle spielen könnten. Dies sind neben grundlegenden historischen und kulturellen Bezügen auch normative Überzeugungen, psychologische Faktoren und insbesondere die öffentliche Repräsentation derjenigen, die Urteile mit exemplarischem Anspruch fällen. Die zweite Schwierigkeit ergibt sich anhand der Frage, wie der Standpunktwechsel genau zu verstehen ist. Ein selbstorientierter Perspektivwechsel, wie Arendt ihn zu verteidigen scheint, führt potenziell zu Projektionen und im Fall ausbleibender realer Begegnungen besteht die Gefahr, dass die Pluralität von Perspektiven gerade durch die Einbildungskraft eingeebnet werden könnte. Die dritte Schwierigkeit betrifft schließlich den Umstand, dass die Wahl und Rezeption von Vorbildbeispielen auch als Bekundungen sozialer Zugehörigkeit verstanden werden können. Die intersubjektive Einbildungskraft kann dann vom eigentlichen intersubjektiven Abgleich ablenken und die Diskussion über Exemplarität vermeiden, weil Menschen imaginativ bestimmten Gruppen zugeordnet werden. Beispiele sollten daher stets auf diese Funktion als Mittel in sozialen Zugehörigkeitsverhandlungen überprüft werden.

Insgesamt erweist sich also die Rolle der intersubjektiv eingesetzten Einbildungskraft und das Verfahren imaginativer Standpunktwechsel bei der Wahl von Beispielen sowohl als hilfreich als auch als potenziell hinderlich. Insbesondere Faktoren sozialer Situierung können zu Schwierigkeiten führen. Die Bestrebung, Verzerrungen zu korrigieren, kann auch mit Arendt als Aufgabe der Urteilskraft und der Einbildungskraft im erweiterten Denken gefordert werden. Allerdings scheint die Einbildungskraft an sich nicht vor verzerrenden Einflüssen geschützt, sondern bedarf dazu der Reflexion und realer Erfahrungen.

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  1. Bei Arendts Texten zum Urteilen handelt es sich um Vorlesungsnotizen zu Kants Philosophie, was interpretatorische Herausforderungen bedeutet, etwa hinsichtlich der Abgrenzung zwischen der Darstellung von Kants und Arendts eigener Position.↩︎

  2. Im Gegensatz dazu steht ein kreativer oder produktiver Gebrauch, siehe Currie/Ravenscroft 2002. Zum Begriff der Imagination in aktuellen Debatten siehe Werner 2024.↩︎

  3. Dieser instruktive Gebrauch steht im Gegensatz zum transzendenten oder radikalen Gebrauch der Einbildungskraft, hierzu siehe Werner 2024, 24f., Kind 2016.↩︎

  4. Ob und wie Beispiele sich verschiedenen Typen zuordnen lassen, ist umstritten, siehe Lück et al. 2013.↩︎

  5. Ich danke zwei anonymen Gutacher:innen und den Herausgeberinnen des Schwerpunkts für Kommentare und Einwände zu diesem Aufsatz und insbesondere zu Arendts Rolle darin.↩︎

  6. In der Vorlesung Über das Böse charakterisiert Arendt die Einbildungskraft ebenfalls als „Fähigkeit, in meinem Geist ein Bild von etwas zu haben, das nicht anwesend ist“ (Arendt 2016, 140).↩︎

  7. Bei Kant geht es hier um ästhetische Urteile. Die Frage, wie Arendts Vorlesungsnotizen sich zu Kants Theorie verhalten und wie plausibel sie als Kant-Auslegung sind, lasse ich außen vor, siehe dazu Beiner 2012, Ferrara 2003, Degryse 2011.↩︎

  8. Auch wenn der Aufsatz Arendts Kant-Rezeption nicht diskutiert, sei hier angemerkt, dass Kant diese Bestimmung nicht eingrenzend, sondern universal formuliert und nicht explizit das tatsächliche Urteilen zum Kriterium macht – dass wiederum sein Begriff „aller Urteilenden“ unbestimmt ist und im Lichte anderer Bemerkungen hier sexistische oder rassistische Ausschlüsse naheliegen, ist ebenfalls zu bemerken.↩︎

  9. Vgl. die Diskussion normativer Vorannahmen bei der Wahl von Vorbildbeispielen in der Supererogationsdebatte bei Reinhardt 2024.↩︎

  10. Vgl. Hähnlein 2023, 130f, und Zerilli 2005, 173f. Ebenso wäre zum Verständnis dieser These anzuführen, dass Arendt damit gegen eine „Unbeurteilbarkeit“ von Verbrechen des Nationalsozialismus argumentierte – die menschliche Einbildungskraft sei sehr wohl in der Lage, das Handeln Eichmanns und anderer Beteiligter für die Beurteilung durch nicht selbst Beteiligte und nachfolgende Generationen zugänglich zu machen (Zerilli 2022, 410; Beiner 2012, 145f.).↩︎

  11. Vgl. Haraways Forderungen in ihrem Aufsatz zum situierten Wissen: „Die Standpunkte der Unterworfenen sind von einer kritischen Überprüfung, Dekodierung, Dekonstruktion und Interpretation keineswegs ausgenommen (…).“ (Haraway 2024, 286f, vgl. 288).↩︎

  12. Zudem verstehen viele Theorien Standpunkte und situierte Perspektiven nicht als einheitlich, vollständig oder anhand einzelner Markierungen rekonstruierbar, sondern als widersprüchlich und fragmentarisch. Fraglich ist, wie dies in einen selbst-orientierten Standpunktwechsel überhaupt Eingang finden könnte.↩︎

  13. Young kritisiert damit Benhabibs diskursethische Auslegung des erweiterten Denkens bei Arendt – ob zu Recht, muss hier offenbleiben.↩︎

  14. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt Young (2001, 225) mit Arendt. Esser bezieht sich hier auf Didier Eribon, der durch sozialen Aufstieg erfährt, wie begrenzt die Vorstellungsfähigkeiten für andere als die eigene soziale Klasse sind. Wie die unterschiedlichen Arendt-Interpretationen mit Differenzen in der Auslegung der Einbildungskraft zusammenhängen, untersucht Zerilli 2005.↩︎

  15. Arendts Pointe ist weniger die Sorge vor gefährlichen Beispielen als davor, dass Menschen sich gar keine Beispiele mehr wählten und gleichgültig gegenüber Gemeinschaften würden.↩︎