Selbstexemplarität in sozialen Medien. Ein Zugang zur digitalen Selbstpräsentation mit Hannah Arendt.

Self-Exemplarity in Social Media: Approaching Digital Self-Presentation with Hannah Arendt

KATHARINA ZÖPFL, EICHSTÄTT-INGOLSTADT

Zusammenfassung: Dieser Beitrag untersucht digitale Selbstpräsentation in sozialen Medien anhand des Begriffs der Selbstexemplarität, der durch Hannah Arendts Konzept der Exemplarstruktur und ihre Reflexion über das Wer der Person inspiriert ist. Es wird die These vertreten, dass sich im digitalen Raum eine spezifische Form der Selbstpräsentation entfaltet, die über Arendts Begriff der Selbstpräsentation hinausgeht. Hierzu werden die Begriffe der Selbstexemplarität, des Selbstexempels und des Selbstexemplars eingeführt. Selbstexemplarität ist kein ausschließlich digitales Phänomen, doch das Digitale verändert die Bedingungen und Auswirkungen dieses Prozesses grundlegend. Während sich analoge Selbstexemplarität in flüchtigen Momenten der Interaktion mit der Mitwelt vollzieht, entstehen im Digitalen fortlaufend Selbstexemplare – konkrete, sicht- und haltbare Artefakte wie Posts, Bilder oder Videos. Diese Selbstexemplare formen das digitale Selbst und können immer wieder bearbeitet und angepasst werden. Das Selbstexempel hingegen ist das idealisierte Bild der eigenen Person, das als Orientierungspunkt dient und durch die Gesamtheit der Selbstexemplare geformt wird. Selbstexemplarität beschreibt die Dynamik dieses Wechselspiels: den kontinuierlichen Prozess der Selbstdarstellung und Selbstgestaltung im digitalen Raum. Im Begriff der Selbstexemplarität zeigt sich eine zentrale Verschiebung im Verständnis von Exemplariät: Während gängige Theorien davon ausgehen, dass sich Individuen an anderen orientieren und diese als Vorbilder nehmen, zeichnet sich digitale Selbstexemplarität dadurch aus, dass das eigene Selbstbild zum Maßstab wird. In diesem Prozess fungiert das digitale Profil als Selbstexempel, das kontinuierlich an der imaginierten Perspektive der digitalen Öffentlichkeit ausgerichtet wird. Es wird gezeigt, dass diese Dynamik der Selbstexemplarität nicht nur die digitale, sondern auch die analoge Existenz der Person beeinflusst.

Schlagwörter: Selbstexemplarität, digitale Selbstpräsentation, Hannah Arendt, soziale Medien, narrative Identität

Abstract: This article analyses digital self-presentation in social media using the concept of self-exemplarity. This term is inspired by Hannah Arendt's concept of the exemplar structure and her reflection on the ‘who’ of a person. The present article develops the thesis that in the digital space a specific form of self-presentation unfolds that goes beyond Arendt's concept of self-presentation. To this end, the concepts of self-exemplarity, self-example and self-exemplar are introduced. The phenomenon of self-exemplarity is not exclusively one of the digital space. However, the digital sphere changes the conditions and effects of this process fundamentally. While self-exemplarity in offline daily practices takes place in fleeting moments of interaction with the world around us, digital self-exemplars – concrete, visible artefacts such as posts, images or videos – are constantly and actively created. These self-examples shape the digital self and can be edited and adapted continuously. A specific resulting “Selbstexempel” is the idealised image of oneself that serves as a point of reference and is shaped by the entirety of the self-examples. Self-exemplarity describes the dynamics of this interplay: the continuous process of self-presentation and self-shaping in the digital space. The concept of self-exemplarity reveals a central shift in the understanding of exemplarity: while traditional forms assume that individuals orientate themselves towards others and use them as role models, digital self-exemplarity is characterised by the fact that one's own self-image becomes the benchmark. In this process, the digital profile functions as a self-example that is continuously aligned with the imagined perspective of the digital public. The article shows that this dynamic of self-exemplarity influences not only the digital, but also the “offline” existence of the person.

Keywords: self-exemplarity, digital self-presentation, Hannah Arendt, social media, narrative identity

1 Einleitung

In einer Gesellschaft, in der große, gemeinschaftsstiftende Narrative zunehmend an Bedeutung verlieren und durch partielle, teils widersprüchliche Subnarrationen ersetzt werden, zeichnet sich eine spezifisch moderne Praxis ab: Tausende Menschen, Prominente wie Privatpersonen, dokumentieren ihr Leben in Form von Mini-Narrationen in digitalen sozialen Netzwerken. Mithilfe von Fotos, Texten und Videos erzählen sie fortlaufend die Geschichte ihres Alltags und präsentieren ihre Erlebnisse vor einem potenziell globalen Publikum. Inspiriert von Hannah Arendt wird in diesem Aufsatz der Versuch unternommen, ihre Überlegungen zur Selbstpräsentation auf die digitale Sphäre zu übertragen, also auf Erscheinungsformen, die es zu ihrer Zeit nicht gab. Für Arendt sind Geschichten eng mit dem Wer der Person verknüpft – jenem Aspekt, der sich nicht durch Eigenschaften oder Fähigkeiten (das Was eines Menschen) erfassen lässt, sondern der sich allein im Handeln und im öffentlichen Erscheinen ausdrückt. Während dieses Erscheinen in der analogen Welt flüchtig und unkontrollierbar bleibt, scheint es sich im digitalen Raum zu verfestigen.

Die zentrale These dieses Aufsatzes ist, dass sich in der digitalen Selbstpräsentation eine neue Form des Erscheinens herausgebildet hat, die sich durch herstellende Kontrolle auszeichnet. Zur Beschreibung dieser Praxis wird der Begriff der Selbstexemplarität eingeführt. Er bezeichnet eine spezifische Form des Selbstverhältnisses, in der das digitale Profil nicht nur Abbild der Person ist, sondern normativ wirksam wird. Diese Praxis zeigt sich darin, dass sich Individuen an ihren eigenen, öffentlich dokumentierten Selbstentwürfen orientieren und diese fortlaufend aktualisieren. Dabei fungiert das Selbstexempel als die idealisierte Version des eigenen Erscheinens, das bewusst geformt und gepflegt wird, während der Begriff des Selbstexemplars die konkreten Darstellungen bezeichnet, die dieser Version Ausdruck verleihen.

Im Begriff der Selbstexemplarität zeigt sich eine Verschiebung gegenüber etablierten Theorien von Exemplarität, in denen Vorbilder primär in anderen Personen verortet sind: Während diese Modelle davon ausgehen, dass Individuen sich an externen Vorbildern orientieren, tritt in der digitalen Selbstexemplarität das eigene Selbstbild zunehmend an die Stelle solcher Referenzen. In diesem Prozess fungiert das eigene digitale Profil als Selbstexempel, das fortlaufend an der imaginierten Perspektive der digitalen Öffentlichkeit ausgerichtet wird.

Im Folgenden wird zunächst Arendts Konzept der analogen Selbstdarstellung und des Wer der Person erörtert. Dabei wird insbesondere auf das Verhältnis von Handeln, Sprechen und Erscheinen eingegangen und aufgezeigt, wie Arendt die Offenbarung des Wer als flüchtigen und unkontrollierbaren Prozess beschreibt. Im Anschluss erfolgt die Übertragung dieser Konzepte auf die digitale Welt. Es wird untersucht, wie sich das Erscheinen in sozialen Netzwerken gestaltet und inwiefern sich diese Form der Selbstpräsentation von der analogen unterscheidet. Im letzten Abschnitt wird mit dem Begriff der Selbstexemplarität die Eigenlogik der digitalen Selbstpräsentation zu erfassen versucht. Die Rollen der Einbildungskraft und der antizipierten Perspektive der digitalen Öffentlichkeit werden dabei besonders hervorgehoben.

2 Das Wer der Person und sein Erscheinen in der Welt

Wenn wir mit anderen Menschen in Beziehung treten, mit ihnen interagieren und handelnd tätig werden, tauschen wir nicht nur Informationen aus und nehmen Einfluss auf die Welt;1 in unserem Tätigsein schwingt immer auch mit, wer wir sind. Dieses Wer besteht für Arendt nicht etwa in den objektiven Eigenschaften eines Menschen, die lediglich darüber Auskunft geben können, was jemand ist. Vielmehr geht es ihr um die Einzigartigkeit unseres Wesens, die wir zeigen, wenn wir die „Bühne der Welt“ betreten (Arendt 2020, 246). Während sich unser Wer in unserem Erscheinen unserer Mitwelt offenbart, bleibt es uns selbst nach Arendt „gerade und immer verborgen“ (ebd.). Wer wir sind und als wer wir erscheinen, ist für uns selbst nicht nur ungreifbar, es entzieht sich auch unserer Kontrolle. Sophie Loidolt beschreibt diese Begebenheit folgendermaßen:

Der intersubjektive Erscheinungsraum ist […] ein Raum, in dem ich, negativ formuliert, ganz dem Unkontrollierbaren ausgeliefert bin und, positiv formuliert, sich überhaupt irgendetwas ereignen kann, das mich in die Welt verstrickt. (Loidolt 2018, 10)

Während bei den Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens Verbrauchsgüter und Gebrauchsgegenstände produziert werden, die wir als Arbeitende und Herstellende mit Abschluss der Tätigkeit ansehen, berühren und bewerten können, kommt den Erzeugnissen der uns in Erscheinung bringenden Tätigkeiten des Handelns2 und Sprechens keine „handgreifliche Dinghaftigkeit“ (Arendt 2020, 129) zu. Sie schlagen sich zwar in Beziehungen und geschaffenen Verhältnissen nieder, die jedoch nur durch die Gegenwart anderer und die Bedingung der Pluralität Wirklichkeitswert tragen, „da nur das Gesehenwerden, das Gehörtwerden und schließlich das Erinnertwerden ihnen überhaupt die schiere Existenz bezeugen können“ (ebd.). Dementsprechend bezeichnet Arendt das Handeln und Sprechen ebenso wie das Denken als „schlechterdings unproduktiv“ (ebd.). Als wer wir uns in unserem lebendigen Handeln vor den Augen der Mitwelt zeigen, bleibt flüchtig und entzieht sich einer vollständigen Erfassung: In unserem unmittelbaren Erscheinen können wir nicht zugleich Subjekt und Objekt unserer Wahrnehmung sein.

Damit die Erzeugnisse des Handelns Beständigkeit in der Welt gewinnen und nicht „spurlos verschwinden“, müssen sie nach ihrem flüchtigen Sich-Ereignen „verwandelt“, also von Menschen erinnert und schließlich verdinglicht werden, wobei Arendt bereits in der Erinnerung den ersten Schritt zur Verdinglichung ausmacht, die etwa in der Verschriftlichung oder der Darstellung durch ein Bild erfolgen kann. Dabei ist jedoch keineswegs selbstverständlich, dass die „Verwandlung des Nichtgreifbaren in die Handgreiflichkeit eines Dinghaften gelingt“ (Arendt 2020, 130). Zudem können die geschaffenen Gegenstände die Ereignisse des Handelns und Sprechens immer nur repräsentieren, nie jedoch in derselben Weise des lebendigen Ursprungsgeschehens:

Die verwandelnde Vergegenständlichung ist der Preis, den das Lebendige zahlt, um nur überhaupt in der Welt bleiben zu dürfen; und der Preis ist sehr hoch, da immer ein ‚toter Buchstabe‘ an die Stelle dessen tritt, was einen flüchtigen Augenblick lang wirklich ‚lebendiger Geist‘ war. Tat, Wort und Gedanken bedürfen, um sich in der Welt anzusiedeln, immer einer ganz anderen Tätigkeit, als die war, die sie hervorgebracht hat. (Arendt 2020, 130)

Der Grund dafür ist, dass das unverwechselbare Wer der Person, das sich im Fluss der Begegnung manifestiert, nicht eindeutig in Worte fassen lässt (ebd., 249). Die einzige Möglichkeit der verdinglichten Darstellung dieser Enthüllung besteht für Arendt „in einer Art Wiederholung des ursprünglichen Vorgangs“ (ebd., 261), in der Nachahmung der sich ereigneten Geschichte. Letzterer kommt zunächst kein Dingcharakter zu, sie ist kein Produkt des Herstellens, sondern muss erst im Nachhinein verdinglicht werden, um gegenständliche Wirklichkeit in der Welt zu erlangen. Wenngleich für die Geschichten die Initiative der Handelnden konstitutiv ist, sind letztere nicht als Autorinnen und Autoren, als Gestaltende der Geschichten zu verstehen: „Jemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt und erlitten, aber niemand hat sie ersonnen.“ (ebd., 255) Arendt unterscheidet hier also deutlich zwischen der wirklichen Geschichte, in die wir „verstrickt“3 sind und aus der wir nicht heraustreten können, und ihrer narrativen Konstruktion in Form verdinglichender Nachahmung (ebd., 295 f.). Über die Geschichte, in die wir verstrickt sind, können wir weder verfügen, noch kennen wir ihren Ausgang. Die Gesamtbedeutung unserer Lebensgeschichte kann erst mit ihrem Ende erkannt werden und darum nie von uns selbst überblickt werden (ebd., 269). Juliane Rebentisch betont in diesem Zusammenhang die „Differenz zwischen Leben und Erzählung, die für die ontologische Nichtfassbarkeit des ‚Wer‘ der Person entscheidend ist. Nie kann eine Erzählung unser Leben vollumfänglich erfassen“ (Rebentisch 2022, 38).

In diesem Kontext verdient ein weiterer Aspekt besondere Aufmerksamkeit: die zentrale Rolle des Anderen für die Entstehung und Sinngebung von Geschichten und Identität. Adriana Cavarero weist darauf hin, dass Identität immer relational verfasst ist und damit auch auf das Erzählen durch andere angewiesen bleibt:

The relational status of identity indeed always postulates an other as necessary – whether this other is embodied by a plurality of spectators who see the self-revelatory actions of the actor, or whether this other is embodied by the narrator who tells the story from which these actions result. Unlike the spectator, the narrator is still not present at the events, and thus, like the historian, gazes upon them retrospectively. [...] [F]or the meaning and the truth of the story, it is imperative that the one who tells the tale is not involved in the action of its protagonist. (Cavarero 2014, 24f.)

Damit wir von anderen als Personen wahrgenommen, gesehen und beachtet werden, müssen wir in die Welt treten und uns ihr zeigen. Für echte Begegnung und Gedankenaustausch ist es notwendig, dass wir unser Innenleben nach außen tragen und es verständlich machen, in uns Verborgenes entprivatisieren und entindividualisieren, uns also öffentlich in Erscheinung bringen. Damit ist die „Öffentlichkeit“ für Arendt ein existenzieller Raum, in dem sich das Wer der Person realisieren kann. Öffentlich ist, was im Licht der Erscheinung steht – also dem Wahrnehmen und Erinnern durch andere zugänglich wird. Diese Form der Öffentlichkeit setzt eine Welt voraus, die von Menschen gemeinsam bewohnt wird, und eine Pluralität, die Einzelnen die Möglichkeit gibt, als unverwechselbare Wesen in Erscheinung zu treten (siehe Meinefeld 2025). Indem wir uns anderen Menschen wahrnehmbar machen, versichern wir uns unserer eigenen Realität, denn „daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt“ (Arendt 2020, 74). Loidolt drückt es im Rahmen ihrer phänomenologischen Lesart Arendts wie folgt aus: „Wer ich bin, ist nicht etwas ‚hinter‘ der Erscheinung, sondern es zeigt sich nur in der Erscheinung. […] Unsere ‚Innerlichkeit‘ vollzieht sich als ein Draußen-Sein.“ (Loidolt 2018, 8) Die Existenz eines „inneren Selbst“, das sich hinter den Erscheinungen verbirgt, zweifelt Arendt grundlegend an: Ein solches „erscheint weder dem inneren noch dem äußeren Sinne, denn die inneren Daten besitzen keinerlei dauerhaftere Eigenschaften, wie sie mit ihrer Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit die individuelle Erscheinung kennzeichnen.“ (Arendt 2022, 49) Erscheinen heißt stets anderen erscheinen und ist damit untrennbar an die Pluralität gebunden. Wie ich erscheine, hängt nicht nur von meiner eigenen Performance auf der Bühne der Welt ab, sondern auch und insbesondere von der jeweiligen Perspektive der einzelnen Zuschauenden. Arendt wählt die Metapher eines Schleiers, der alles, was zur Erscheinung gebracht wird, begleitet und „der es durchaus verbergen oder entstellen kann, aber nicht muß“ (ebd., 31). Wir sind also auf den Schleier der Erscheinung angewiesen, um wahrnehmbar und damit wirklich zu werden.

Arendt zufolge ist es ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, in Erscheinung zu treten – sichtbar zu werden im Raum des Gemeinsamen. Dieses Bedürfnis äußert sich in einem „Drang zur Selbstdarstellung“ (Arendt 2022, 31), den sie als „Drang zu erscheinen, sich in die Welt der Erscheinungen einzufügen“ beschreibt (ebd., 39). Dabei geht es jedoch ausdrücklich nicht um die forcierte Darstellung eines verborgenen Inneren, sondern um das Zeigen des eigenen So-Seins in einer geteilten Welt. In diesem Zusammenhang unterscheidet Arendt zwischen self-display (Selbstdarstellung) und self-presentation (Selbstpräsentation). Letztere folgt der Logik des Herstellens: Sie ist gezielt, strukturierend und auf einen bestimmten Effekt hin ausgerichtet (Arendt 1978, 36). Diese Unterscheidung wird im Folgenden weiterentwickelt, um zu zeigen, wie digitale Plattformen eine verstärkte Form der Selbstpräsentation hervorbringen.

3 Social Media als Raum der Selbstpräsentation

Prägend für Arendts Schriften ist ihre Ermutigung zum Betreten der Öffentlichkeit, um sprechend und handelnd wortwörtlich weltverändernde Impulse zu setzen. In der Gegenwart wird dieser Raum der Öffentlichkeit zunehmend durch digitale Plattformen geprägt, die neue Formen des Erscheinens und Handelns ermöglichen. Wie Tobias Holischka beschreibt, haben sich grundlegende Aspekte des menschlichen Miteinanders in dieses immaterielle Netzwerk verlagert, wobei die Digitaltechnik als das „Eintrittstor“ in bestimmte Formen der Gemeinschaft fungiere (Holischka 2022, 43).

Dabei kommt den sozialen Medien eine Schlüsselfunktion zu4: Sie schaffen Möglichkeiten, öffentlich in Erscheinung zu treten, eigene Haltungen zu teilen und sich ortsunabhängig mit Menschen auszutauschen. Um sich aktiv auf den gängigen Plattformen wie Instagram, TikTok, Facebook, LinkedIn oder X einzubringen, ist die Erstellung eines Online-Profils erforderlich, das die eigene Person repräsentiert und die Interaktion mit anderen Personen, die ebenfalls durch Profile dargestellt werden, ermöglicht. Online-Profile werden aktiv gestaltet und stetig aktualisiert: Stories in Form von Fotos und kurzen Videos werden hochgeladen, Beiträge verfasst, relevante Inhalte kommentiert und geteilt. Zudem werden andere Profile abonniert, Beiträge geliked und Themen oder Kanäle persönlichen Interessen entsprechend ausgewählt. Diese Aktivitäten zielen nicht nur auf Vernetzung ab, sondern auch darauf, ein möglichst umfassendes und stimmiges Selbstbild zu präsentieren. Vanessa Ossino beschreibt diesen repräsentativen Aspekt des Zur-Schau-Stellens der eignen Person als zentrale Funktion der sozialen Medien (Ossino 2022, 120). Durch diese kuratorischen Praktiken entsteht ein digitales Selbstporträt, das vermeintlich die eigene Persönlichkeit und die eigenen Interessen widerspiegelt, dabei jedoch auch stark auf die erwartete Wahrnehmung und Bewertung durch andere ausgerichtet ist. Aktuelle Forschungen betonen zunehmend, dass digitale Selbstinszenierung nicht bloß individuelle Ausdrucksform ist, sondern durch die technischen, ästhetischen und sozialen Rahmenbedingungen digitaler Plattformen strukturiert wird.5 Für viele Menschen ist die Möglichkeit, sich vor einer breiten digitalen Öffentlichkeit darzustellen, verlockend – eine Beobachtung, die Arendts These eines menschlichen Drangs zur Selbstdarstellung eindrucksvoll zu untermauern scheint. Doch die Weise, in der wir uns in sozialen Netzwerken in Erscheinung bringen, kann nicht einfach als eine verlagerte Form der analogen Selbstdarstellung beschrieben werden. Zunächst offenbart sich ein struktureller Unterschied: Wie ausgeführt entstehen bei Arendt im sich-offenbarenden Sprechen und Handeln Beziehungen und Geschichten, die später verdinglicht werden können. Sie hält fest, dass das „Produkt“ der Geschichte von der handelnden Person womöglich gar nicht intendiert war und nicht auf die „Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke“ (Arendt 2020, 254) zurückgeht. Im digitalen Raum vollzieht sich dieser Prozess andersherum, das eigene Profil wird hergestellt mit dem Ziel, darüber Auskunft zu geben, wer wir sind – oder genauer: wer wir sein möchten. Exemplarisch für diese Umkehrung sind die sogenannten Stories auf Instagram. Dieses Format ermöglicht es, Fotos, Videos, Texte und Beiträge öffentlich zu teilen, die nach 24 Stunden automatisch verschwinden. Die Kurzlebigkeit dieser Inhalte betont ihre Aktualität und bietet eine Art „Live-Mitschnitt“ der eigenen Lebensgeschichte für ein öffentliches oder ausgewähltes Publikum. Die digitalen Erscheinungsprodukte verlieren den Charakter als Folgeprodukte des Handelns in der Welt. Besonders deutlich wird diese Veränderung, wenn Social-Media-Nutzende ihre analogen Tätigkeiten an der Produktion digitaler Inhalte ausrichten, also bewusst Orte aufsuchen oder Dinge tun, die sich besonders gut in ihre digitale Selbstpräsentation einspeisen lassen, was sich wiederum auf die spezifische Materialisierung dieser Orte auswirkt: „Wer im 21. Jahrhundert einen Freizeitpark oder einen anderweitigen Anlaufpunkt für vergnügungssüchtige Familien betreibt, muss diesen kompatibel für die vermeintliche Selbstverwirklichung auf Instagram gestalten.“ (Nymoen und Schmitt 2021, 74 f.)

Ein weiterer Unterschied, der sich im Vergleich zur analogen Selbstdarstellung aufdrängt, ist die Selektivität der in Erscheinung gebrachten Inhalte: Bevor Beiträge, Videos und Fotos veröffentlicht werden, können diese eingehend betrachtet, korrigiert oder verworfen werden, sodass letztendlich nur diejenigen Facetten nach außen geraten, die man als Teil des Selbstbilds erscheinen lassen möchte. Die Tendenz, sich so zu inszenieren, wie man gerne wahrgenommen werden möchte, ist allerdings nicht erst mit der Erschließung digitaler Räume entstanden. Bereits Arendt beschreibt eben dieses Phänomen mit dem Begriff der „Selbst-präsentation“, den sie, wie erwähnt, explizit von der Selbstdarstellung abgrenzt6:

Die Selbstpräsentation unterscheidet sich von der Selbstdarstellung durch die aktive und bewusste Wahl des gezeigten Bildes; die Selbstdarstellung hat keine andere Wahl, als die Eigenschaft zu zeigen, die das Lebewesen tatsächlich besitzt. […] Nur die Selbstpräsentation ist der eigentlichen Heuchelei und Verstellung zugänglich […]. (Arendt 2022, 45f.)

Zeigen wir uns im Modus der Selbstpräsentation, so verschleiern wir unsere Erscheinung im „Gewande des Scheins“, wir verstellen uns und täuschen unserem Gegenüber vermeintliche Eigenschaften vor, die uns natürlicherweise gar nicht entsprechen. Dies kann in der analogen Welt auf unterschiedlichen Ebenen geschehen. Ein Beispiel hierfür ist die Situation eines Bewerbungsgesprächs. Nehmen wir an, ich behaupte gegenüber meinen künftigen Vorgesetzten, eine begeisterte Teamplayerin zu sein, obwohl ich insgeheim viel lieber in Ruhe alleine arbeite. Verschiedene Gründe könnten mich zu meiner Selbstpräsentation veranlasst haben: die Bereitschaft zur Zusammenarbeit wurde in der Stellenausschreibung besonders hervorgehoben, ich möchte meiner Vorgesetzten imponieren, ich habe in der Vergangenheit negative Erfahrungen mit meinem bisherigen Arbeitsstil gemacht oder ich möchte eine soziale, teamorientierte Person sein, um mir selbst zu gefallen. Dabei ist die Selbstpräsentation immer schon durchzogen von sozialen Erwartungen, normativen Leitbildern und kulturellen Erzählmustern, die internalisiert sind – teils bewusst, teils unbewusst. Das Idealbild entsteht also in einem Spannungsfeld zwischen Selbstentwurf und kollektiver Rahmung.

Nehmen wir weiter an, ich spiele meine Rolle überzeugend und werde eingestellt. Womöglich beginne ich sofort in meiner gewohnten Weise als Einzelkämpferin aufzutreten, womit sich meine vielversprechenden Selbstzuschreibungen als leere Worte erweisen und sich meine Selbstpräsentation bereits nach kürzester Zeit auflöst. Vielleicht bin ich hingegen motiviert, meinem gezeichneten Selbstportrait gerecht zu werden und inszeniere mich mit Antritt meiner Tätigkeit eifrig als besonders gemeinschaftsorientierte Kollegin. Hierfür genügen nicht länger Lippenbekenntnisse: Ich muss handeln, als sei ich eine Teamplayerin. Bleibe ich lange genug in meiner Rolle, kann meine neue, ursprünglich vorgetäuschte Haltung vielleicht sogar „zur zweiten Natur oder zur Gewohnheit werden“ (ebd., 45). Bleibt diese Entwicklung aus, wird es mir mit der Zeit womöglich zunehmend schwerfallen, die Fassade aufrecht zu erhalten. Während ihre Beweggründe vielfältig sind, hängen „Erfolg und Mißerfolg bei der Selbstpräsentation […] davon ab, wie stimmig und dauerhaft das der Welt dargebotene Bild ist.“ (Arendt 2022, 45) Die einzige Möglichkeit für Außenstehende, die Täuschung aufzudecken, besteht darin, dass der falsche Schein nicht durchgehend und konsistent bestehen bleibt. Wird die ursprünglich zum Schein vorgegebene Haltung jedoch zur Gewohnheit, verliert sie ihren täuschenden Charakter und wird Teil der authentischen Selbstdarstellung.

Während in der unmittelbaren Wirklichkeit die Selbstpräsentation nur einen Modus des In-Erscheinung-Tretens darstellt, den niemand dauerhaft und vollumfassend aufrechterhalten kann, ist das Auftreten in der digitalen Öffentlichkeit immer auch Selbstpräsentation.7 Mehr noch ist das Aufrechterhalten der scheinhaften Fassade hier mit deutlich geringerer Anstrengung verbunden, da ich mich in meinem Alltagsleben völlig anders verhalten kann, als ich es online vorgebe zu tun. Sogar das digitale Teilen „ungeschönter Realität“ bleibt ein inszenatorischer Akt, dem eine bewusste Entscheidung vorausgeht. Dennoch genügt Arendts Begriff der Selbstpräsentation nicht, um digitalem Erscheinen gerecht zu werden.

4 Digitale Selbstpräsentation als Selbstexemplarität

Im Modus der Selbstpräsentation „präsentieren sich die Menschen auch in Tat und Wort und zeigen so, wie sie erscheinen möchten, was sie wahrgenommen wissen möchten und was nicht“ (Arendt 2022, 43). Diese Beschreibung trifft auf das Agieren in sozialen Netzwerken zweifelsohne zu. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das digitale Erscheinen spezifische Elemente aufweist, die damit nicht eingefangen werden können. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, dass sich diese spezifische Form besser mithilfe des Begriffs der Selbstexemplarität begreifen lässt, der im Folgenden eingeführt wird.

4.1 Das Exemplarische als Zugang zum Selbst

Begriffe, die mit dem Exemplarischen in Verbindung stehen (wie Exemplar, Beispiel, Exempel exemplarisch, beispielhaft) zielen ab auf „eine Relation zwischen Einzelnem und Allgemeinem, Individuellem und Generellem“ (Summa und Mertens 2022, VII). Dabei lassen sich zwei Bedeutungsdimensionen unterscheiden: Zum einen kann ein Beispiel als individueller Fall herangezogen werden, um ein Allgemeines zu veranschaulichen. Fragt ein Kind danach, was Steinobst bedeutet, könnte man ihm als Beispiel die Aprikose nennen. Weiß es nicht, was damit gemeint ist, könnte man eine konkrete Aprikose aus dem Obstkorb auswählen und sie ihm zeigen. Die Frucht im Obstkorb ist ein Beispiel einer Aprikose, das Besondere, welches das Allgemeine des Aprikose-Seins in sich erhält.

Ein Beispiel kann in einer zweiten Bedeutungsdimension allerdings auch ein Einzelnes sein, das gleichzeitig in allgemeiner Bedeutung interpretiert wird. So gilt etwa die Französische Revolution als Sinnbild für den Übergang von absolutistischen Monarchien zu modernen Demokratien: Sie steht nicht nur für den spezifischen historischen Prozess in Frankreich, sondern prägt auch das allgemeine Verständnis von Revolutionen als Umbruchphasen, die Freiheit und Gleichheit anstreben. Solche Beispiele bieten im Unterschied zu rein illustrativen Beispielen tiefgehende Einsichten und erlangen eine normative Rolle, indem sie als Maßstab oder Orientierung für ähnliche Phänomene dienen. Arendt führt dazu in Anlehnung an Kant aus:

Man mag einen Tisch antreffen oder sich ausdenken, den man für den bestmöglichen erklärt, und man nimmt den Tisch als Beispiel dafür, wie Tische in Wirklichkeit sein sollen: der exemplarische Tisch. (Exemplarisch kommt von ‚eximere‘: etwas Besonderes herausgreifen.) Dieses Exemplar ist und bleibt etwas Besonderes, das gerade in seiner Besonderheit die Allgemeinheit, die sonst nicht definiert werden konnte, enthüllt. Mut ist wie Achilles usw. (Arendt 2021, 118f.)

Um die beiden genannten Bedeutungsdimensionen des Beispiels in diesem Text terminologisch zu unterscheiden, differenziere ich im Folgenden zwischen den Begriffen Exemplar und Exempel8: Der Begriff Exemplar wird hier für jene Beispiele verwendet, die ein allgemeines Prinzip oder eine Kategorie illustrieren, ohne dabei zwingend eine normative oder prägende Funktion zu übernehmen. Ein Exemplar dient der Illustration eines bereits bestehenden Allgemeinen, indem es dieses nachträglich als Konkretes sichtbar macht. In Abgrenzung dazu bezeichnet im Folgenden der Begriff Exempel ein Exemplar, das eine normative Funktion erfüllt. Es handelt sich hierbei um ein konkretes Einzelnes, das das Allgemeine nicht bloß veranschaulicht, sondern selbst hervorbringt oder definiert. Ein Exempel ist nicht nur Ausdruck des Allgemeinen, sondern wird auch als Maßstab oder Vorbild verstanden. Exemplarische Verhaltensweisen von Personen entwickeln normativen Charakter, sodass diese zu Vorbildern werden.9

Insbesondere für die ethische Bildung spielen Exempel eine zentrale Rolle: Diese „lehren oder überzeugen durch Inspiration“ (Arendt 1994, 351), wodurch sie eine Orientierungshilfe für die Ausrichtung der eigenen Verhaltensweisen bieten.10 Arendt führt hier (neben Achilles als Exempel und Inbegriff für mutiges Verhalten) Jesus von Nazareth und den heiligen Franziskus als Vorbilder für das „Gutsein“ an, denen jemand, der „gut sein“ möchte, nachfolgen könne (Arendt 1994, 350f.).

Ebenfalls in Anschluss an Kant hebt Katharina Naumann die Wirkung des „guten Exempels“ für die Moralerziehung hervor:

Indem uns empirische Exempel vor Augen führen, was wir konkret tun könnten, affizieren sie aber nicht nur unser moralisches Gefühl und unsere Selbstachtung, sondern appellieren auch an unser Gewissen. Darüber vermittelt können sie einen Beitrag zur Selbsterkenntnis leisten, und tragen dazu bei, dass wir unsere eigenen Untugenden in Vergleichung mit dem Gesetz besser erkennen können. Somit können sie gleichsam einen positiven Einfluss auf die Entwicklung unserer moralischen Stärke haben. Indem sie uns zur Nachfolge inspirieren, leisten sie daher einen wichtigen Beitrag zur Selbstvervollkommnung. (Naumann 2020, 160f.)

Die Voraussetzung dafür, dass wir uns in unserem Verhalten und Sein ein Vorbild an jemandem nehmen können, liegt laut Arendt in der Selbstreflexivität. Wir können uns auf uns selbst beziehen, unsere Aufmerksamkeit auf unser eigenes Erscheinen in der Welt lenken und uns vornehmen, uns zu verändern. Wir können uns beispielsweise darüber ärgern, dass wir neidisch auf eine Freundin sind, oder uns wünschen, wir wären kommunikativer. Die Selbstreflexion bezeugt einen Unterschied, der sich im menschlichen Bewusstsein abzeichnet, während die Person für Außenstehende als Einheit erscheint:

Das menschliche Bewußtsein legt es nahe anzunehmen, daß Unterschied und Anderssein, die solch herausgehobene Kennzeichen der dem Menschen in einer Pluralität von Dingen als seine Wohnstatt gegebene Welt der Erscheinungen sind, auch für die Existenz des menschlichen Ego die wahren Bedingungen seien. Denn dieses Ego, das Ich-bin-Ich, erfährt Verschiedenheit in der Identität genau dann, wenn es nicht zu den erscheinenden Dingen, sondern zu sich selbst in Beziehung steht. (Arendt 1994, 150f.)

In unserem Verhältnis zu uns selbst kommen beide Begriffsdimensionen des Beispiels zum Tragen: Zunächst ist jede von uns nicht nur ein Exemplar eines Menschen, sondern wie Karen Joisten in Anlehnung an Paul Ricœur11 ausführt, in jedem Moment auch Exemplar ihrer selbst oder, wie ich es nennen möchte, ein Selbstexemplar:

So bleibt die Person aufgrund ihrer Selbigkeit bzw. ihrer Idem-Identität in jeder Dynamik als ein- und dieselbe (als dieses Exemplar) bestehen, wie sie zugleich als Selbstheit gewissermaßen eine Vielzahl von Exemplaren ist, die als Repräsentationsformen der sich im Laufe der Zeit veränderten Identitäten gelesen werden kann. (Joisten 2021, 23)

Zugleich präsentiere ich mich in jedem In-Erscheinung-Treten als exemplarisch. Ich könnte mich auch völlig anders – lauter, leiser, ernster, freundlicher usw. – präsentieren, würde ich in einer anderen Stimmung, mit anderen Menschen zusammen, in einem anderen Rahmen auftreten. Befinde ich mich im Modus der Selbstpräsentation, bestimme ich bewusst mit, auf welche Weise ich in Erscheinung trete. Auf Basis meiner eigenen Erwartung an mich selbst oder der unterstellten Erwartung derjenigen Menschen, denen ich begegne, entwerfe ich eine exemplarische Version meiner eigenen Erscheinung, die normativen Charakter entwickeln kann und die ich als solche fortan Selbstexempel nenne. Diese Imagination exemplarischen Erscheinens, die sich aus vergangenen Selbstexemplaren oder Wunschvorstellungen zusammensetzt, repräsentiert mich mir selbst und fungiert als leitender Orientierungspunkt für mein konkretes Auftreten und Handeln. Wie bereits oben beschrieben können wir uns im Modus der Selbstpräsentation unserem Selbstexempel immer weiter annähern und beispielsweise mit der Zeit den eigentlich bloß vorgetäuschten Teamgeist zur Gewohnheit werden lassen. Dann können wir den Modus der Selbstpräsentation immer mehr ablegen und uns unmittelbar, d.h. ohne unser Verhalten ständig mit unserem Selbstexempel abzugleichen und es daran auszurichten, darstellen.

Die Quellen des Selbstexempels können verschiedene sein: Vielleicht erinnern wir uns an Situationen, in denen wir uns bereits auf eine Weise präsentiert haben, mit der wir zufrieden waren. Vielleicht reagieren wir auch auf Feedback aus der Vergangenheit (z.B. „Ich finde deine offene Art auf Konferenzen wirklich sympathisch!“) und konzentrieren uns darauf basierend auf die Betonung einer bestimmten Persönlichkeitsfacette (z.B. offenes Auftreten). Womöglich orientieren wir uns aber auch an anderen Menschen, die uns in ihrem Erscheinen Vorbilder sind. In allen drei Fällen betätigen wir uns unserer Einbildungskraft, der Fähigkeit des Geistes, sich etwas zu vergegenwärtigen, „was den Sinnen nicht gegenwärtig ist“ (Arendt 2022, 81).

Auch die Erwartungshaltung unseres Gegenübers, dem wir uns auf bestimmte Weise präsentieren, versuchen wir uns mit Hilfe unserer Einbildungskraft zu vergegenwärtigen, um sie bestmöglich zu erfüllen oder vielleicht auch bewusst mit ihr zu brechen. Dazu stellen wir uns zunächst den Standpunkt unseres Gegenübers vor: Wie ist es, in dieser Situation diese Person zu sein? Welche Interessen treiben sie um? Weiter stellen wir uns vor, wie diese Person unsere konkrete Performance wahrnimmt und was sie in ihr auslöst (Bewunderung, Sympathie, Provokation usw.), um unser Verhalten entsprechend anzupassen. Wir treten also imaginativ aus unserer eigenen Perspektive heraus und stellen uns vor, vom Standpunkt des Gegenübers auf uns zu blicken. Je mehr Menschen wir gegenübertreten, desto abstrakter wird der vorgestellte Standpunkt. Während wir uns in der direkten Begegnung mit Einzelnen oder kleinen Gruppen noch differenziert in deren Perspektive versetzen können, greift unsere Einbildungskraft bei größeren Mengen zunehmend auf generalisierte Bilder zurück. Das leitende Selbstexempel basiert dann weniger auf der spezifischen Wahrnehmung eines Individuums als vielmehr auf einem vorgestellten kollektiven, oft schematischen Blick. In solchen Momenten agieren wir weniger als einzigartige Selbstexemplare als vielmehr als Repräsentantinnen eines bestimmten sozialen Typus oder einer Rolle, die sich im Zusammenspiel mit der imaginierten Masse in Form unseres Selbstexempels herausbildet.

Letztlich bleibt unser Selbstexempel eine Idealfigur, ein imaginäres Konstrukt, das in der Realität nie vollständig zur Deckung mit unserem tatsächlichen Erscheinen kommt. Unser Erscheinen bleibt geprägt von situativen Nuancen, spontanen Reaktionen und der Unberechenbarkeit der Folgen unseres Handelns. Während wir versuchen, durch bestimmte Gesten, Worte oder Haltungen exemplarisch unser Selbstexempel zu verkörpern, bleibt das Bild, das andere von uns gewinnen, stets partiell und vermittelt durch deren eigene Perspektiven und Interpretationen. Wir können nicht steuern, wie unser Gegenüber uns wahrnimmt oder welche Facetten unserer Selbstpräsentation hervortreten und im Gedächtnis haften bleiben. Zudem sind wir keine statischen Wesen: In unterschiedlichen Kontexten, Rollen und emotionalen Zuständen zeigen wir zwangsläufig mehr (oder auch weniger) als das, was unser Selbstexempel vorgibt. Wir überschreiten diese exemplarische Selbstvorstellung, sei es durch Widersprüche, unerwartete Verhaltensweisen oder Momente der Authentizität, in denen das Ungeplante und Ungefilterte hervorscheint.

4.2 Die Selbstexemplarität des Online-Profils

Die digitale Selbstpräsentation lässt sich in besonderem Maße als ein Exemplaritätsgeschehen begreifen. Zunächst orientieren sich Nutzende sozialer Medien an den beispielhaften Erscheinungsformen anderer, um sich selbst im Exemplar eines Profils auszudrücken. Dabei werden bestehende Muster und Trends aufgegriffen, variiert oder bewusst gebrochen. Die digitale Präsenz formt sich somit stets im Spannungsfeld zwischen individuellen Ausdrucksversuchen und kollektiven Normen. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Modi, etwa in der Ästhetik von Selfies durch die Wahl von Filterstilen oder in der Ausrichtung der Selbstdarstellung an Likes und Follower-Zahlen. In immersiveren digitalen Umgebungen wird diese exemplarische Repräsentation zudem verkörpert: Avatare fungieren dort als digitale, „handelnde“ Selbstfiguren. Wie Marya Schechtman argumentiert, können solche avatarvermittelten Erfahrungen dann Teil der narrativen Selbstdeutung werden, wenn sie in das biografische Selbstverständnis integriert sind (Schechtman 2012). Auch wenn die gängigen sozialen Plattformen keine verkörperten Avatare bereitstellen, zeigt sich in der Gestaltung des Profils eine verwandte Dynamik: Das digitale Selbstbild wird zur projektiven Figur, die gleichermaßen Orientierung bietet und Handlungen motiviert.

Das Profil, das wir in sozialen Medien erschaffen, steht in einem beispielhaften Verhältnis zu uns, es ist eine exemplarische virtuelle Repräsentanz unserer selbst, die auch völlig anders aussehen könnte: Statt sich als abenteuerlustige Freizeitgestalterin mit einem Herz für nachhaltigen Tourismus zu inszenieren, könnte ein und dieselbe Person sich auch als engagierte Feministin oder vegane Hobbyköchin präsentieren. Das Online-Profil ist also keine Abbildung der eigenen Person, sondern vielmehr eine exemplarische Darstellung einzelner ihrer Facetten. Es ist ein Exemplar, das aus der Fülle möglicher Selbstentwürfe hervorsticht und ein spezifisches, für uns bedeutsames Bild des Selbst sichtbar macht. Das Selbstexempel bleibt im digitalen Raum jedoch nicht bloß abstrakte Idealvorstellung, sondern wird vielmehr in einem hergestellten, abgespaltenen Profil materialisiert. Die digitale Selbstpräsentation lässt sich somit auch als eine Art ‚image making‘ verstehen, ein Phänomen, das Arendt mit Blick auf politische Propaganda einführt und das dadurch gekennzeichnet ist, dass „man ungestraft alles unter den Tisch fallen lassen kann, was das gerade erwünschte ‚image‘ eines Ereignisses, einer Nation oder einer Person zu stören geeignet ist. Denn dieses ‚Bild‘ […] soll nicht wie ein Porträt dem Original schmeicheln, sondern es ersetzen.“ (Arendt 1994, 355). Dabei weist sie bereits auf die Bedeutung von Massenmedien hin, durch deren Techniken „dieser Ersatz […] ungleich wirksamer in der Öffentlichkeit verbreitet werden [kann], als es das Original je von sich aus vermag“ (ebd.). Und diese Wirksamkeit dürfte durch die digitalen Medien ungleich größer geworden sein.

Welche Facetten wir in unserer digitalen Selbstpräsentation auswählen und wie wir uns präsentieren, ist wie in der analogen Welt von den imaginierten Erwartungen der Zuschauenden und meinen eigenen Vorstellungen einer „gelungenen Identität“ geprägt. Doch während im Analogen oft konkrete Individuen oder Gruppen als Referenz dienen, ist es im Digitalen zumeist der diffuse, anonyme Blick „der Gesellschaft“, der zur zentralen Bezugsgröße wird. Zwar kann das digitale Selbstexempel bewusst für eine bestimmte Community kreiert werden, doch es bleibt stets durch die Vorstellung eines allgegenwärtigen, anonymen Publikums geprägt. Dieser „Blick der anderen“, eine gedankliche Konstruktion gesellschaftlicher Erwartungen, wirkt formend auf das digitale Erscheinen. Es ist weniger der individuelle Blick eines konkreten Gegenübers, der antizipiert wird, sondern ein abstrakter, massenhafter Blick, der durch soziale Normen, Trends und kulturelle Muster bestimmt ist (vgl. den internalisierten Blick bei Foucault 1977).

Die Selbstinszenierung wird zudem maßgeblich von den Selbstexempeln anderer geprägt, die auf denselben Plattformen zur Schau gestellt werden. Social-Media-Nutzende befinden sich in einem ständigen Vergleich mit einer Flut an digitalen Vorbildern, deren Selbstdarstellungen Trends setzen und kollektive Ideale formen. So entstehen Formate wie das „Tradwife“-Narrativ – die performative Inszenierung eines häuslichen, unterwürfigen Frauenbildes – oder das „That-Girl“-Ideal, das für eine konsumorientierte Form der Selbstoptimierung steht und das weibliche Subjekt zugleich als konsumierbares Objekt erscheinen lässt. Diese scheinbar individuellen Lebensentwürfe reproduzieren ästhetische und soziale Standards, die durch algorithmische Sichtbarkeit verstärkt werden. Sie schaffen nicht nur Anreize zur Nachahmung, sondern entfalten einen subtilen Konformitätsdruck, in dem das eigene Profil als Exemplar kollektiver Muster mitfunktioniert. Das digitale Selbstbild ist somit nicht nur Ausdruck persönlicher Vorlieben, sondern Teil eines Netzwerkes normativer Ästhetiken: „Das ewige Gerede von Individualität, Kreativität und Authentizität offenbart durch seine Vehemenz und Ununterscheidbarkeit in Wahrheit Gruppenzwang, Nachahmung und die Anpassung des Ich an die algorithmische Künstlichkeit.“ (Nymoen und Schmitt 2021, 74)

Während wir im analogen Auftreten die Außenperspektive auf uns selbst lediglich mit Hilfe der Einbildungskraft imaginieren, erlaubt uns das digitale Erscheinen, diesen Blickwinkel tatsächlich einzunehmen. Wir können unser eigenes Profil, unsere Beiträge und Bilder so betrachten, wie sie der Welt präsentiert werden. Wir sind uns selbst daher sichtbarer denn je – dennoch bleibt uns die eigentliche Wahrnehmung der anderen letztlich unzugänglich und unserer Kontrolle entzogen. Wir können nie mit Sicherheit wissen, wie unser digitales Auftreten auf jede Einzelne wirkt. Das Spezifische des digitalen Selbstbildes betrifft indes nicht die tatsächliche Wirkung auf andere, sondern vielmehr die Art der Erzeugung, nämlich als gezielte, technisch gestützte Darstellung, die auf Wirkung hin entworfen ist.

Fraglich ist daher, wie viel Wer im arendtschen Sinne über das digitale Profil transportiert wird – manifestiert sich das Wer der Person für die Mitwelt doch gerade im flüchtigen, unkontrollierbaren Überschuss der unmittelbaren Begegnung. Das digitale Profil vermag zwar Facetten der Person zu zeigen, diese sind allerdings durch Auswahl und Bearbeitung immer schon verformt. Was bleibt, ist weniger die spontane Offenbarung des Wer als vielmehr eine Konstruktion dessen, was wir zu zeigen bereit sind, ein Was in der Sprache der Bilder, Texte und Likes.

Das Bedürfnis, sich in Form eines künstlichen Produkts selbstexemplarisch darzustellen und dabei diejenigen Züge hervorzuheben, die für das eigene Selbst als charakteristisch oder erstrebenswert begriffen werden, ist nicht erst ein Phänomen des digitalen Zeitalters. Schon lange zuvor versuchten Menschen, durch Selbstporträts, autobiographische Schriften oder symbolische Darstellungen sich selbst darzustellen und damit greifbar und sichtbar zu machen. Die digitale Selbstpräsentation zeichnet sich jedoch durch zwei elementare Wesensunterschiede im Vergleich zur künstlerisch herstellenden Selbstverwirklichung aus: Vergleicht man ein Social-Media-Profil etwa mit dem gezeichneten Selbstporträt eines Künstlers, wird erstens deutlich, dass das Porträt ein in einem abgeschlossenen Prozess entstandenes, künstlich erzeugtes Bild ist. Das Kunstwerk ist einmal geschaffen und bleibt beständig. Auch wenn sich seine Wirkung je nach Zeit und Perspektive verändert, bleibt das Werk selbst unverändert. Zweitens vermag es zwar emotionale Ausdruckskraft zu entfalten und kann die Künstlerin auf eindrucksvolle Weise darstellen, aber dennoch würde niemand es als tatsächliche Repräsentation der Person begreifen. Dies zeigt sich auch darin, dass anders als beim Online-Profil eine Interaktion mit dem Porträt nicht möglich ist. Ähnliches gilt für literarische Formen: Selbst die Autobiographie, die dem Verlauf des eigenen Lebens und damit der Komplexität der eigenen Identität als dynamisches Selbstverhältnis wohl am ehesten gerecht wird, bleibt ein abgeschlossenes Werk, ein Zeugnis des Lebens zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und es wird auch nicht als (fortlaufende) Repräsentanz der Person verstanden. Zwar kann das Schreiben immer neuer Werke (ähnlich wie bei Prousts Versuch, die Zeit literarisch einzuholen) den kontinuierlichen Fluss des Lebens reflektieren, doch bleibt jedes Buch eine beständige Verdinglichung. In diesem Sinne lässt sich die eigene narrative Identität12 als ein Exemplar des Selbst begreifen, als etwas, das im Nachhinein fixiert wird, aber das bewegliche Leben nicht vollständig einholen kann.

Im Unterschied dazu gleicht das digitale Profil einem Bild, das fortlaufend überarbeitet, erweitert und angepasst wird und zugleich als unmittelbare Darstellung der Person gelesen wird. Frühere Versionen verschwinden oder treten in den Hintergrund so wie frühere Versionen unserer selbst nicht mehr präsent sind. Zwar existieren die Inhalte weiterhin in den Tiefen des Internets, doch sind sie im direkten Blick auf unser Profil nicht mehr sichtbar – weder für uns noch für andere. Die digitale Repräsentation bleibt somit fluide und gleicht einem künstlich erzeugten Spiegelbild, das sich mit und durch uns verändern lässt, anstatt sich in einer abgeschlossenen Form zu verhärten.

Die Pflege des eigenen Online-Auftritts findet ebenso wie das Erschaffen von Kunstwerken im Tätigkeitsmodus des Herstellens statt. Arendt weist darauf hin, dass Herstellung sich „stets unter der Leitung eines Modells, dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird“ (Arendt 2020, 188) vollzieht, welches sich „außerhalb des Herstellenden selbst“ befindet und daher dem Werkprozess vorausgeht und ihn bedingt. (ebd.)

Den herstellenden Prozess, durch den ein Individuum sich auf Weisen präsentiert, die als exemplarisch für die eigene Identität gelten sollen, möchte ich als Selbstexemplarität bezeichnen. Im digitalen Raum zeigt sich Selbstexemplarität als fortlaufender Prozess, bei dem Individuen Selbstexemplare in Form von Beiträgen produzieren, die sich im Online-Profil als Selbstexempel manifestieren. Dieser Prozess ist zirkulär: Die Summe der Selbstexemplare formt das Profil als Ganzes, während dieses Gesamtbild wiederum die Richtung neuer Selbstexemplare vorgibt.

Indem auf Social Media Erlebnisse und Eindrücke aus dem analogen Leben festgehalten und geteilt werden, bleibt der Einfluss des digitalen Selbstexempels nicht auf den digitalen Raum beschränkt. Die Person, die sich etwa als abenteuerlustige Freizeitgestalterin inszeniert, muss immer wieder außergewöhnliche Unternehmungen planen und erleben, um ihrem Selbstexempel gerecht zu werden und dieses durch immer neue Selbstexemplare aufrechtzuerhalten. Das Selbstexempel nimmt somit nicht nur Einfluss darauf, was als darstellungswürdig empfunden wird, sondern zugleich auch darauf, was als lebenswert empfunden wird. Oder stellen wir uns einen Social-Media-Nutzer vor, der sich als aktiver, sportlicher Mann darstellen möchte, obwohl er im Alltag nur wenig Lust auf Bewegung hat. Um dieses Bild zu pflegen, hat er eine Herausforderung mit seinen Followern geteilt: Er plant, in diesem Jahr 100 Mal joggen zu gehen, und dokumentiert seine Fortschritte, indem er die Anzahl der absolvierten Läufe abhakt. Obwohl dieses Vorhaben vermutlich nur wenige Außenstehende tatsächlich interessiert, motiviert den User der antizipierte Blick der anderen. So ist er ständig mit seinem Selbstexempel konfrontiert, das nicht nur eine innere, sondern auch eine äußere Validierung benötigt, die den Druck verstärkt, das idealisierte Bild des aktiven, sportlichen Selbst zu erfüllen.

Die digitale Selbstpräsentation hat somit eine neue Dimension der Sichtbarkeit des Selbstexempels eröffnet. Im Gegensatz zur analogen Welt, in der das Selbstexempel zwar als leitender Orientierungspunkt fungieren kann, jedoch nie wirklich greifbar wird, ermöglicht die digitale Welt, dass dieses exemplarische Bild aktiv in der Öffentlichkeit gezeigt wird. Hier kann das Selbstexempel nicht nur internalisiert und angestrebt, sondern auch von anderen wahrgenommen und bewertet werden. Die Motivation für das eigene Handeln verschiebt sich mit dem digitalen Selbstexempel immer mehr von „x sein wollen“ hin zu „als x erscheinen wollen“. Eine ähnliche Diagnose formuliert Halsema, wenn sie schreibt: „Instead of expressing ourselves about who we are, we expose ourselves to others. In showing what we do with whom and where in visuals and words, we lose ourselves.“ (Halsema 2021, 112) Diese Verschiebung verändert die Weise, wie das Subjekt sich zu sich selbst verhält: Sein Streben richtet sich statt auf die Gestaltung des eigenen Lebens zunehmend auf die Konstruktion und Pflege eines öffentlich sichtbaren Selbstbildes. Das Subjekt erfährt sich dabei nicht mehr als Ursprung seines Handelns, sondern begegnet sich als darstellbares Objekt – geformt durch die Vorstellung dessen, wie es erscheint.

5 Fazit

Im Vorhergehenden wurden die Begriffe des Selbstexempels und der Selbstexemplarität eingeführt, um die Selbstrepräsentation in digitalen Medien zu analysieren. Dabei wurde dafür argumentiert, dass das Selbstexempel aus der Summe der Selbstexemplare besteht und diese zugleich beeinflusst. Mit dem Begriff der Selbstexemplarität wurde sodann die Dynamik dieses Prozesses beschrieben – ein ständiges Wechselspiel zwischen der Produktion einzelner Selbstexemplare und der fortschreitenden Formung des Selbstexempels. Dabei ist deutlich geworden, dass Selbstexemplarität zwar kein ausschließlich digitales Phänomen ist, das Digitale die Bedingungen ihrer Entstehung und Wirkung jedoch grundlegend verändert: Während unsere analoge Selbstpräsentation für uns selbst letztlich ungreifbar bleibt, entwickelt sich im digitalen Raum eine materialisierte, kontrollierbare Form des Erscheinens, wodurch das flüchtige Wer hergestellten Selbstexemplaren weicht. Und dies, so das Ergebnis der vorhergehenden Überlegungen, hat mitunter erheblichen Einfluss auf unser „echtes“ Leben:

Die Wechselwirkung zwischen digitalen Selbstexemplaren und dem Selbstexempel beeinflusst nicht nur das digitale, sondern auch das analoge Selbstbild und führt zu einer neuen Qualität der Selbstbeobachtung. Das eigene Online-Profil wird zu einem ständig veränderbaren Spiegel, der es ermöglicht, fortlaufend an der zur Schau gestellten Repräsentanz zu arbeiten und diese zu formen. Die Quellen des Selbstexempels speisen sich auch aus den digitalen Selbstexemplaren anderer, die täglich konsumiert werden.

Die digitale Selbstexemplarität nimmt auch normativen Einfluss auf das analoge Leben, indem sie die Motivation und das Verhalten im Alltag beeinflusst. Dies führt zu einer neuen Dynamik im Verhältnis von digitaler und analoger Welt, in der die Grenzen zwischen beiden zunehmend verschwimmen. Digitale Selbstbilder entfalten Wirkungsmacht, ohne dass die Person hinter ihnen notwendig adressierbar wäre. Sichtbarkeit allein garantiert noch keine Ansprechbarkeit – politische Teilhabe verlangt ein Wer, das nicht in der Ästhetik seiner Repräsentation aufgeht.

Die angestellten Überlegungen eröffnen weitere Forschungsfragen. So verdient etwa die Rolle der Einbildungskraft in der digitalen Selbstpräsentation einer näheren Betrachtung: Wird primär die anonyme Masse antizipiert oder nehmen Nutzende sozialer Medien auch konkrete Zuschauende und ihre Perspektive in den Blick? Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich die exemplarische Selbstpräsentation langfristig auf zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Dynamiken auswirkt. Die Untersuchung dieser Aspekte könnte neue Einblicke in die normativen Dimensionen digitaler Selbstverwirklichung und deren Auswirkungen auf Identität, soziale Interaktion und gesellschaftliche Entwicklungen liefern.

Literatur


  1. Arendts Begriff der „Welt“ meint dabei die gemeinsam geteilte Sphäre, in der Menschen durch Dinge, Institutionen, Erzählungen und Praktiken miteinander verbunden sind. Die Welt ist ein Raum der Bezogenheit, der es ermöglicht, dass Handlungen Bedeutung erlangen und Erscheinungen Bestand gewinnen. (Arendt 2020, 65f.).↩︎

  2. Arendt grenzt die Tätigkeit des Herstellens zu Beginn der Vita activa insbesondere durch ihre „Produktivität“ von derjenigen des Handelns ab: „Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen“ (Arendt 2020, 23), wohingegen sich das Handeln ohne „Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt.“ (ebd., 24).↩︎

  3. Arendt bedient sich mit dem Verstrickstein in Geschichten eines Begriffs, der ursprünglich im geschichtenphilosophischen Ansatz Wilhelm Schapps geprägt wurde, der den Geschichten einen fundamentalontologischen Status zuschreibt (Schapp 1953, 103). Diesen scheint Arendt zumindest in Ansätzen zu teilen.↩︎

  4. Im Januar 2025 lag die Anzahl der Social-Media-Nutzenden weltweit bei rund 5,24 Milliarden. (We Are Social, DataReportal, Meltwater 2025).↩︎

  5. Bortolan (2024) zeigt, dass Online-Plattformen als Umgebungen fungieren, in denen narrative Selbstkonstitution nicht nur möglich, sondern gezielt unterstützt wird. Osler (2024) beschreibt das Phänomen des narrative railroading, das beschreibt, wie Plattformlogiken strukturell festlegen, welche Narrative sichtbar und anschlussfähig sind. Siehe außerdem Jacobsen (2020) zur algorithmischen Strukturierung autobiografischer Inhalte und Korin (2016) zur Ästhetisierung gegenwärtiger Momente als antizipierte Erinnerung („Nowstalgia“).↩︎

  6. Ein naheliegender Vergleich hierzu ist Erving Goffmans Konzept des „impression management“, das die bewusste Steuerung von Eindrücken im sozialen Miteinander beschreibt (siehe Goffman 2021). Während Arendt das Erscheinen im öffentlichen Raum vor allem als existenzielle Dimension des Menschseins und der Pluralität begreift, ist Goffmans Ansatz soziologisch und analysiert die sozialen Rollen und Bühnen des Alltagslebens. Trotz dieser unterschiedlichen Perspektiven bestehen strukturelle Parallelen zwischen Goffmans Welt-als-Theater-Metapher und Arendts Verständnis von Erscheinung und Öffentlichkeit, die an anderer Stelle vertieft werden könnten.↩︎

  7. Das gilt selbst für das Chatten, welches im Vergleich zu anderen Formen digitaler Kommunikation unmittelbarer und spontaner scheint. Trotz der vergleichsweise schnellen Interaktion, die durch den direkten Austausch ermöglicht wird, ist auch hier eine bewusste Entscheidung über Inhalte und Ausdrucksweise involviert. Eine weitere Sonderform stellt der Live-Stream dar, also die Übertragung eines Ereignisses in Echtzeit. Hier besteht weniger Möglichkeit zur Nachbearbeitung und Inszenierung als bei sorgfältig produzierten Inhalten. Dennoch kann kaum von einer unmittelbaren Erscheinung gesprochen werden, da die Akteurinnen und Akteure ihre Darstellung bewusst gestalten und permanent ihr eigenes „Spiegelbild“ überwachen können. Die ständige Selbstbeobachtung, die auch durch die zunehmende Nutzung von Videokonferenzen Einzug in den Alltag vieler genommen hat, wäre ein interessanter Aspekt für eine vertiefte Analyse, der jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann.↩︎

  8. Die hier vorgenommene terminologische Unterscheidung zwischen Exemplar und Exempel ist eine Setzung, die der Klarheit der Argumentation dient. Sie folgt keiner allgemein etablierten Konvention und erhebt keinen Anspruch auf terminologische Eindeutigkeit. In der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Tradition werden die Begriffe Exempel und Exemplar teils synonym, teils mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen verwendet. Alternativ könnten auch Begriffe wie Modell und Fallbeispiel oder Paradigma und Illustration herangezogen werden, um diese beiden Dimensionen von Beispielen zu differenzieren. Eine ähnliche Unterscheidung trifft Mirjam Schaub (2010), wenn sie zwischen dem „austauschbaren Exempel“ und dem „potenziell unaustauschbaren Paradigma“ differenziert. Das Exempel sei „an sich nichtssagend und nichtig, austauschbar und kritisierbar“, während das Paradigma durch seinen exemplarischen Erfolg selbst „eine neue Regel setzt“ und sich der Widerlegbarkeit zunehmend entzieht (Schaub 2010, 49). Die hier gewählte Abgrenzung soll primär den funktionalen Unterschied zwischen rein illustrativen und normativ prägenden Beispielen hervorheben.↩︎

  9. Archer und Matheson betonen die Funktion des Exempels als Maßstab in der moralischen Praxis: „When you honour or admire a person, this also functions to identify them as an exemplar – that is, as someone to be emulated“ (Archer 2021, 47). In diesem Sinne kann das Handeln Einzelner nicht nur persönliche Bedeutung haben, sondern allgemeine Gültigkeit erlangen, indem es sie zu Vorbildern macht. Zur Orientierungsfunktion von Beispielen siehe auch Beran 2021, 166.↩︎

  10. Myisha Cherry unterstreicht ebenfalls den besonderen Stellenwert von Vorbildern für die moralische Entwicklung: „Moral exemplars strike down our pride because when we compare the conduct of exemplars to our own conduct, we are reminded of how far we may be from representing the moral law. We are humbled. However, moral exemplars also inspire respect for morality. Moral exemplars do not themselves inspire such respect, qua persons or personalities. Moral exemplars are not morality themselves; instead they show or hold before us a law.“ (Cherry 2017, 60) Die Autorin mahnt allerdings zum vorsichtigen Gebrauch insbesondere in Bezug auf Vergebungsvorbilder.↩︎

  11. Paul Ricœur fasst das Phänomen personaler Identität in einem dialektischen Verhältnis zwischen der Selbigkeit (idem) und der Selbstheit (ipse). Während erstere für „identisch“ im Sinne von gleichartig, sehr ähnlich, unveränderlich in der Zeit steht, meint letztere das identisch-sein mit sich selbst (Ricœur 1996, 144ff.).↩︎

  12. Konzepte narrativer Identität gehen davon aus, dass personale Identität nicht auf festen Eigenschaften beruht, sondern durch die erzählerische Integration von Erfahrungen über die Zeit hinweg konstituiert wird. Einen Überblick geben Schechtman (2011) und Heersmink (2018). Ricœur (1992) hebt in phänomenologisch-hermeneutischer Perspektive die Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität hervor, während etwa Zahavi (2007) die Grenzen narrativer Selbstdeutung betont und auf vor-narrative, leibliche Dimensionen verweist. Die hier vertretene Position greift diese Spannungen auf, ohne ein konsistentes Selbstbild vorauszusetzen.↩︎