https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/issue/feed Zeitschrift für Praktische Philosophie 2023-03-06T10:15:38+01:00 Zeitschrift für Praktische Philosophie praktische.philosophie@plus.ac.at Open Journal Systems <p>Die Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP) ist ein vollständig kostenlos zugängliches Publikationsorgan für Arbeiten aus allen Bereichen der praktischen Philosophie, die in ihrem Themenbereich einen wertvollen Beitrag zur vorhandenen Literatur darstellen. Die ZfPP ist offen für alle Schulen, Inhalte und Arbeitsweisen, sofern diese den wissenschaftlichen Qualitätskriterien genügen. Neben historisch orientierten und systematischen Arbeiten sind auch solche möglich, die den Mainstream der Theorien und Theoriebricolagen verlassen und neue, innovative Wege einschlagen.</p> https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/412 (Moralisch) Guter Sex: Eine Kritik am Zustimmungsmodell 2023-03-02T15:01:34+01:00 Hilkje C. Hänel Hilkje.haenel@zfpp.at <p>In einem kürzlich erschienenen Artikel argumentiert Almut v. Wedelstaedt überzeugend, warum Zustimmung zwar „die Bedingung für die Legitimation von Sex“ ist (2020, 127), dass die moralische Güte von Sex aber nur dann einzuschätzen ist, wenn wir darauf achten, ob die Beteiligten der Handlung sich auf Augenhöhe begegnen. Die Idee ist: Es gibt legitime sexuelle Handlungen, die moralisch gut sind, und es gibt legitime sexuelle Handlungen, die moralisch besser sind. Hier möchte ich die Idee des besseren Sexes genauer ausloten. Während v. Wedelstaedt von moralisch gelungenem Sex spricht und somit auf der Ebene der moralischen Bewertung von Sex bleibt, möchte ich die Frage danach stellen, was Sex qualitativ gut macht. Tatsächlich wird in der Zustimmungsdebatte meist davon ausgegangen, dass diese zwei Fragen wenig gemeinsam haben; ob eine sexuelle Handlung legitim ist, hat zunächst nichts damit zu tun, ob diese auch gut ist. Ich werde drei Argumente liefern, warum wir legitimen Sex und qualitativ guten Sex zusammen betrachten sollten – und es wird sich zeigen, dass die gegenwärtige philosophische und rechtstheoretische Debatte Zustimmung verkürzt diskutiert und daher alleingenommen wenig hilfreich ist, stattdessen benötigt die Zustimmungsdebatte auch eine Untersuchung von qualitativ gutem Sex.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Hilkje C. Hänel https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/413 (Un)Moralische Emotionen & Westernsplaining 2023-03-02T15:15:52+01:00 Carina Pape carina.pape@zfpp.org <p>Viele moralphilosophische Konzepte haben sich aus kolonialen Legitimationsdiskursen heraus entwickelt. Um diesbezüglich Philosophie als Selbstkritik zu praktizieren, werde ich das Begriffspaar „Scham(kulturen) und Schuld(- kulturen)“ als konkretes Beispiel diskutieren und die (un)moralischen Emotionen Scham und Schuld in der deutsch- und englischsprachigen Philosophie von Immanuel Kant bis hin zur Debatte um die <em>moral emotions</em> kritisch beleuchten. Der diesem Begriffspaar zugrundeliegende Ethnozentrismus kann durch einen interkulturellen Polylog zwischen Nordamerika, Europa und Japan aufgedeckt werden. Der Blick auf japanische Scham- und Schuldphänomene sowie der japanische Blick auf europäische Varianten deckt eine ethnozentrische Verkürzung der europäischen Begriffe auf. Dadurch kann nicht nur das kolonialistische Konzept der „Scham- und Schuldkulturen“ korrigiert, sondern auch das eigene moralphilosophische Vokabular präzisiert werden.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Carina Pape https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/411 Unter dem und wider den ‚Bann des Einheitsprinzips‘ – Adornos Beitrag zum Zusammenhang von Identifizierungsmacht, Subjektbildung und Affekt 2023-03-02T14:20:03+01:00 Sarah Bianchi sarah.bianchi@plus.ac.at <p>Während Adorno bisher kaum in den zeitgenössischen Debatten des affective turn rezipiert wird, sucht der vorliegende Aufsatz eine bisher weitestgehend vernachlässigte affekttheoretische Lektüre von Adornos Schriften zu entwickeln. Mit Adornos Formulierung ‚unter dem und wider den Bann des Einheitsprinzips‘, die er in der Negativen Dialektik von 1966 entwickelt hat, soll eine bis heute relativ vernachlässigte Doppelperspektive auf Adornos Verständnis von Affekten herausgearbeitet werden: Zum einen wird die affektive Bereitschaft der Subjekte gezeigt, sich mit der Macht der „verwalteten Welt“ zu identifizieren und sich also an sie zu binden. Diese Perspektive wird in dem Aufsatz anhand der Formulierung ‚unter dem Bann des Einheitsprinzips‘ skizziert. Zum anderen wird ebenso die affektive Bereitschaft der Subjekte herausgearbeitet, durch die Subjekte sich auch von ihren Bindungen an die Mächte der „verwalteten Welt“ desidentifizieren und tiefere Klarheit über den Zustand ihres Weltbezugs und ihrer eigenen Situation gewinnen können. Diese Sicht wird durch die Formulierung ‚wider den Bann des Einheitsprinzips‘ erläutert.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Sarah Bianchi https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/410 Editorial 2023-03-02T14:05:06+01:00 Birgit Beck birgit.beck@plus.ac.at Sarah Bianchi sarah.bianchi@plus.ac.at Karoline Reinhardt karoline.reinhardt@plus.ac.at Gottfried Schweiger gottfried.schweiger@plus.ac.at Michael Zichy michael.zichy@plus.ac.at 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Birgit Beck, Sarah Bianchi, Karoline Reinhardt, Gottfried Schweiger, Michael Zichy https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/420 Einleitung: Redefreiheit und Kritik: Müssen wir alles tolerieren, was andere sagen? 2023-03-03T09:43:33+01:00 Christine Turza christine.turza@zfpp.org <p>Nicht selten wird zum Beispiel in Diskussionen um „Political Correctness“ oder „Cancel Culture“ Kritik an bestimmten Positionen geübt und im Namen der Meinungsfreiheit zugleich Kritik an der eigenen Meinung zurückgewiesen. Offenbar besteht Klärungsbedarf in Bezug darauf, ob und, wenn ja, wann Kritik ebenso wie ihre Zurückweisung berechtigt sind. Hierzu gilt es insbesondere den Zusammenhang eingehender zu betrachten zwischen dem universellen Recht auf Redefreiheit, dessen gesetzlicher Kodifizierung und den ethischen Anforderungen, denen Redebeiträge und deren Kritik unterstehen. In sieben Beiträgen wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln das Thema des Schwerpunkts „Redefreiheit und Kritik: Müssen wir alles tolerieren, was andere sagen?“ beleuchtet. Dabei soll auch die öffentliche und nicht nur die akademische Debatte über das Recht auf Rede- bzw. Meinungsfreiheit sowie die normativen Grenzen von Kritik bereichert werden.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Christine Turza https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/421 Grundzüge einer demokratischen Ethik der freien (Wider-)Rede 2023-03-03T09:54:48+01:00 Marie-Luisa Frick marieluisa.frick@zfpp.org <p>Die Frage moralischer und/oder rechtlicher Grenzen der Meinungsfreiheit, der Grenzen des Sagbaren und Tolerierbaren, stellt zunehmend eine gesellschaftliche und politische Metadebatte dar, in der Versuche, komplexe Phänomene des Aushandelns von Grenzen des Zulässigen bzw. Notwendigen semantisch zu fixieren, von erheblichem Lagerdenken zeugen. Wer von „Politischer Korrektheit“, „Cancel Culture“, „Meinungsdiktatur“ oder „Kontaktschuld“ spricht, steht klar auf der einen Seite, so scheint es; wer von „Diskriminierung“, „Rassismus“, „Hassrede“ oder „weißen Privilegien“ spricht, auf der anderen. Vor dem Hintergrund solch verfestigter Diskursbahnen stellt die Frage, ob wir alles tolerieren müssen, was andere sagen, eine Erwägungsaufgabe dar, die nur mit einem Schritt zurück überhaupt adressierbar ist, will man nicht mit dem Jargon der einen Seite die Anliegen der anderen ausschließen und damit den ungeprüften Eindruck befördern, es handle sich hier tatsächlich um eine unversöhnliche Polarisierung, der die Philosophie nichts hinzuzufügen habe, außer vielleicht ein Lamento oder eine moralische Geste. Der Umweg, über den ich im Folgenden die von dieser Schwerpunktausgabe gestellte Frage behandeln möchte, führt zunächst zu einer Analyse der Ansprüche, die plurale Demokratien an ihre Mitglieder stellen. Diese sind nicht nur grundsätzlich hoch, sondern mitunter auch in sich konfliktträchtig. Konkret betrifft dies die Anforderung an Mitglieder demokratischer Gemeinwesen, sowohl bürgerliche Toleranz zu üben als auch diskursives Engagement als Vorbedingung qualitätsvoller demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung an den Tag zu legen. Die jeweils ‚richtige Mitte‘ lässt sich dann am besten finden, wenn die Risiken zweier Extreme bewusstgemacht werden, die daran geknüpft sind, dass einerseits ein zu hohes Maß an ziviler Toleranz zulasten diskursiven Engagements geht und andererseits ein Mangel an bürgerlicher Toleranz diskursives Engagement gefährdet. Entlang dieser beiden Formen einer verhängnisvollen Dysbalance des demokratischen Ethos möchte ich Grundzüge einer demokratischen Ethik der freien Rede und freien Widerrede herausarbeiten und Implikationen für Grenzen von Meinungsfreiheit bzw. Kritik beleuchten.&nbsp;</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Marie-Luisa Frick https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/422 Redefreiheit als Befähigung zur öffentlichen Rede 2023-03-03T10:29:40+01:00 Christoph J. Merdes christoph.merdes@zfpp.org <p>Redefreiheit ist häufig als negatives Abwehrrecht aufgefasst worden, und wird dies auch heute noch in vielen Kontexten. Ein solches negatives Abwehrrecht ist jedoch ungeeignet, die der Freiheit zugrundeligenden normativen Gründe vollständig zu realisieren. In diesem Aufsatz wird ein Befähigungsansatz in Stellung gebracht, um eine substanziellere Freiheit zur öffentlichen Rede zu formulieren. Ein zentrales Ergebnis ist die Feststellung, dass die Befähigung zum öffentlichen Sprechen eine korrespsoniderende Befähigung zum Hören verlant; Hören bedeutet dabei nicht nur die sensorische und linguistische Fähigkeit, sprachliche Äußerungen zu verstehen, sondern die Vermögen zu verstehen, wohlwollend zu rezipieren und kritisch zu antworten.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Christoph J. Merdes https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/423 Gegenrede 2023-03-03T10:40:13+01:00 Silvia Donzelli silvia.donzelli@zfpp.org <p>Als informelle Reaktion auf Hassrede kann Gegenrede (counterspeech) von jeder Bürgerin und jedem Bürger in alltäglichen Kontexten praktiziert werden. Sind Individuen auch moralisch gefordert, die eigene Stimme gegen Hassrede zu erheben? In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie sich eine individuelle moralische Pflicht zur Gegenrede begründen lässt. Zuerst soll gezeigt werden, dass das Rettungs- und Hilfspflichtmodell zu kurz greift. Es wird dann vorgeschlagen, die individuelle moralische Forderung nach Gegenrede als Solidaritätspflicht aufzufassen, die im Ziel, sozio-politische Ungerechtigkeit zu kontern, begründet ist. Zudem wird die fundamentale Rolle des Publikums angesichts von Hassrede untersucht, und speziell auf die normativen Implikationen der Idee, dass Schweigen die schädigende Wirkung von Hassrede verstärken kann, eingegangen.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Silvia Donzelli https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/424 Dekoloniale Ethik und die Grenzen der Redefreiheit 2023-03-03T11:08:36+01:00 Stefan Knauß stefan.knauss@zfpp.org <p>Der argentinische Philosoph Enrique Dussel ist im deutschen Sprachraum kaum noch präsent. Seine dekoloniale <em>Ethik der Befreiung</em> (Dussel 2000) widmet sich den von marginalisierten Gruppen gemachten Erfahrungen materieller und diskursiver Ausgrenzung. Der Subjekttypus des <em>ego clamo</em> bezeichnet einen ethisch relevanten „Hilfeschrei“ der seit dem europäischen Kolonialismus benachteiligten Menschen des globalen Südens. Dussels Ethik wird innerhalb der dekolonialen Theoriebildung um das Konzept der <em>Kolonialität der Macht</em> (span. colonialidad del poder) verortet, in ihrer Entstehung nachgezeichnet und auf aktuelle Fragestellungen der Toleranz, Pluralität und Meinungsfreiheit bezogen. Wie Aníbal Quijano und Walter Mignolo geht auch Enrique Dussel von der Persistenz spezifischer Machtstrukturen aus, die sich während des europäischen Kolonialismus etabliert haben. Nach Quijano impliziert <em>Kolonialität der Macht</em> soziale Klassifizierungen durch Kategorien wie Rasse (span. raza) und Geschlecht, die aus einer eurozentrischen Perspektive formuliert (<em>Kolonialität des Wissens</em>) und im kolonialen Zeitalter global handlungsleitend wurden (<em>Kolonialität des Wissens</em>). <em>Dekolonialität</em> soll derartige „Muster der Macht“ (span. patrón de poder) historisch aufweisen und mit verschiedenen epistemischen Strategien zu dekonstruieren. Dussels <em>Ethik der Befreiung</em> ist dabei auf die Dekolonialisierung von Subjektivität gerichtet. Sie fordert auf zur Übernahme der Perspektive materiell und diskursiv Benachteiligter. Die leibhaftige Präsenz vielfach ausgeschlossener Menschen begründet eine Pflicht zur Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie weist auf den blinden Fleck abstrakter, vom fiktiven Standpunkt der Allgemeinheit formulierter liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen hin: Sie blenden identitätsbasierte Formen der Exklusion methodisch aus. Individuelle, aber nicht zugleich kontingent gemachte Erfahrungen der Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe oder des Geschlechts können von der Mehrheitskultur einer Gesellschaft oft nicht ausreichend nachvollzogen werden. Mit Dussel lässt sich begründen, dass wir dennoch verpflichtet sind, uns mit den teilweise unbekannten und manchmal auch unbequemen Perspektiven der Anderen auseinanderzusetzten. Ein solcher Prozess der Konfrontation muss dabei jedoch jederzeit frei von Hass und Gewalt bleiben. Das Recht auf Freiheit des Ausdrucks wird überstrapaziert, wenn es die Fortsetzung diskriminierender Reden und ausgrenzender gesellschaftlicher Praktiken bedeutet. Ihm stehen manifeste Unrechtserfahrungen von Minderheiten entgegen, die deren Würde verletzen.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Stefan Knauß https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/425 Frei reden dürfen, aber es doch nicht sollen? 2023-03-03T11:42:47+01:00 Tim F. Huttel tim.huttel@zfpp.org <p>Geht es nach der Political Correctness (PC), soll man auf bestimmte Redeweisen verzichten, obwohl diese legal zulässig sind. Inwiefern PC mit solchen Forderungen die Redefreiheit beeinträchtigt, ist eine hart umkämpfte Frage. Begreift man PC, wie ich vorschlage, mit Bernard Williams als moralistischen Anspruch, lässt sie sich begrifflich differenziert und instruktiv beantworten. Der „korrekte“ Anspruch basiert auf ungedeckten Sollens-Behauptungen und schlägt sich in einem spezifischen Gebrauch von Vorwürfen nieder. So begriffen lässt sich zum einen leicht darlegen, inwiefern PC nötigend wirkt und wechselseitiges Vertrauen aufzehrt: Die PC kennzeichnet ein Desinteresse gegenüber den Beweggründen der Rednerinnen, weshalb sie weder nach Gründen fragt noch Gründe gibt, sondern mit Vorwürfen Grenzen zieht. Zum anderen wird deutlich, dass die Kritik diskriminierender Rede nicht notwendig diesen Anspruch erheben muss. Es lassen sich verständigungsorientierte Strategien aufweisen, die umso dringlicher erscheinen, als es in liberaler Politik und Gesellschaft immer Gründe gibt, gegen PC-Redekonventionen zu verstoßen, und das Gut der Redefreiheit auf das robuste Vertrauen in anhaltende Kooperation angewiesen ist.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Tim F. Huttel https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/426 Sind „vulnerable Gruppen“ vor Kritik zu schützen? 2023-03-03T11:49:07+01:00 Maria-Sibylla Lotter mariasibylla.lotter@zfpp.org <p>Der Artikel verteidigt den Wert und die Unverzichtbarkeit der freien Debatte gegen neuere Tendenzen, gewisse kontroverse Beiträge zur öffentlichen Diskussion als Schädigungen vulnerabler Menschen zu delegitimieren. In den Abschnitten 1–2 werden zwei elementare Funktionen der Redefreiheit für eine liberale Demokratie vorgestellt: Erstens ist die Möglichkeit zum gewaltfreien politischen Widerspruch gegen Mehrheitsentscheidungen eine Bedingung ihrer Geltung auch für Andersdenkende. Zweitens ist sie eine notwendige Bedingung für die Erzeugung der politischen Kompetenz, die eine Demokratie am Leben hält und vernünftige politische Entscheidungen ermöglicht. In Abschnitt 3 erläutere ich, welche individuellen und sozialen Schwierigkeiten auftreten, und welche Tugenden daher entwickelt werden müssen, damit sich in einer freien Debatte kollektive Kompetenz entwickeln kann. Ausgehend von der Frage nach den Grenzen der Redefreiheit geht der 4. Abschnitt auf neuere Debatten über <em>Hate Speech</em> ein und hinterfragt deren tendenzielle Gleichsetzung mit physischer Gewalt. Der 5. Abschnitt führt die suggestive Kraft der Rhetorik der Vulnerabilität auf <em>Concept Creep</em> zurück und beschreibt die ideologische Nutzung dieser Rhetorik für die Ziele von Interessengruppen, wodurch reale Macht- und Interessenkonflikte als moralische Fragen ausgegeben werden.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Maria-Sibylla Lotter https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/427 Vom Umgang mit Spielverderber:innen 2023-03-03T11:56:13+01:00 Stefan Pfleghard stefan.pfleghard@zfpp.org <p>Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die <em>Fluchtverwandlung</em> als wesentlichen Aspekt des Diskursverhaltens der extremen Rechte zu beschreiben. Der Beitrag geht aus vom Prinzip, dass ein offener Diskurs all jenen offenstehen soll, die ihn als legitime Form der Auseinandersetzung anerkennen und ihn nicht zu zerstören versuchen. Es wird gezeigt, dass der Vergleich des offenen Diskurses mit einem Spiel sich für die Betrachtung des Diskursverhaltens als äußerst fruchtbar erweist. Dieser Vergleich ermöglicht im Rückgriff auf Johan Huizinga (Homo ludens, 1938) die Anwendung der Unterscheidung zwischen Falschspieler und Spielverderber auf den Diskurs. Wer den Diskurs zu zerstören versucht, entspricht vielmehr einem Spielverderber als einem Falschspieler. Das besondere Merkmal des Diskurses von Spielverderber:innen wird am Beispiel der Diskursführung von Sekten illustriert. Als ihr wesentliches diskursstrategisches Mittel erweist sich, was Elias Canetti (Masse und Macht, 1960) als Fluchtverwandlung beschreibt. Der Diskurs der Spielverderber:innen zeichnet sich durch wiederholte schnelle Fluchtverwandlungen aus, deren Zweck darin besteht, sich nicht auf eine bestimmte Position festnageln zu lassen.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Stefan Pfleghard https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/414 Einleitung: Verschwörungserzählungen 2023-03-02T15:47:30+01:00 Nils Baratella nils.baratella@zfpp.org Alexander Max Bauer alexander.bauer@zfpp.org Helena Esther Grass Helena.Grass@zfpp.org Stephan Kornmesser stephan.kornmesser@zfpp.org <p>Verschwörungserzählungen sind ein fortdauernd prominentes Thema in der nachrichtlichen Berichterstattung und treten immer wieder in Zusammenhang mit Bewegungen auf, die demokratische Strukturen zu untergraben versuchen. In der aktuellen Diskussion um Verschwörungserzählungen dominieren psychologische, politische, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Philosophische Zugänge hingegen scheinen dabei unterrepräsentiert zu sein. Der hier vorliegende Schwerpunkt „Verschwörungserzählungen“ soll einen Beitrag dazu leisten, diesem Mangel abzuhelfen, und das Phänomen der Verschwörungserzählungen aus verschiedenen Perspektiven insbesondere der Praktischen Philosophie zu beleuchten.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Nils Baratella, Alexander Max Bauer, Helena Esther Grass, Stephan Kornmesser https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/415 Verschwörungserzählungen im Kontext der Wissenschaftsleugnung 2023-03-02T16:02:41+01:00 Thomas Heichele thomas.heichele@zfpp.org <p>Der Aufsatz untersucht aus wissenschaftstheoretischer Warte Verschwörungserzählungen im Kontext der Wissenschaftsleugnung und stellt sowohl diesbezügliche Merkmale als auch angemessene Kritikverfahren heraus. Zu diesem Zweck werden zu Beginn die jeweiligen Charakteristika von Wissenschaft und Pseudowissenschaft herausgearbeitet. Daran anschließend wird Wissenschaftsleugnung als eine spezifische Form der Pseudowissenschaft vorgestellt, bei der es sich losgelöst von den Kriterien legitimer Kritik um ein Bestreiten wissenschaftlichen Wissens handelt. In diesem Zusammenhang werden sieben Strategien der Wissenschaftsleugnung erläutert und mit den rational begründeten Methoden zur Erlangung wissenschaftlicher Überzeugungen kontrastiert. Als eine der sieben Taktiken werden Verschwörungserzählungen im nächsten Schritt einer gesonderten Analyse unterzogen. Hierbei findet eine Explikation der in diesem Zusammenhang relevanten Begriffe „Verschwörung“, „Verschwörungserzählung“ und „Verschwörungstheorie“ statt, die sich als operationalisierbar für Anwendungen mit Blick auf Verfahren der Wissenschaftsleugnung erweist. Im Anschluss daran werden zehn Begründungsstrategien unplausibler Verschwörungserzählungen erarbeitet und mit den Methoden der Wissenschaftsleugnung in Verbindung gesetzt. Den Schluss bildet ein Anriss praktischer Herausforderungen, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern, wobei noch einmal die besondere Rolle der Philosophie bei der Bewältigung der Gefahren einer Kultur des Postfaktischen betont wird.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Thomas Heichele https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/416 Alethische und Narrative Modelle von Verschwörungstheorien 2023-03-02T16:21:20+01:00 David Heering david.heering@zfpp.org <p>Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, dialektischen Raum für eine bisher mindestens zu wenig diskutierte Theorieoption hinsichtlich des Nachdenkens über Verschwörungstheorien zu schaffen. Die bestehende Literatur geht fast ausschließlich davon aus, dass Verschwörungstheorien Erklärungen sind. Die typische mentale Einstellung gegenüber den Inhalten von Verschwörungstheorien ist demnach die der Überzeugung – eine Einstellung also, die durch ihre repräsentationale und propositionale Struktur gekennzeichnet ist und folglich als wahr oder falsch, gut oder schlecht gerechtfertigt bewertet werden kann. Ich nenne Modelle, die dieser Annahme folgen, alethische Modelle. Alethische Modelle können Verschwörungstheorien nicht als distinkte Klasse begreifen, ohne sie als epistemisch defizitär zu kennzeichnen. Die bestehende Literatur befindet sich deshalb in einer misslichen Pattsituation: Sie muss entweder Verschwörungstheorien als Klasse Irrationalität (oder andere epistemische Defizite) unterstellen (Generalismus). Oder sie muss verneinen, dass Verschwörungstheorien eine distinkte Klasse mentaler Einstellungen darstellen. Verschwörungstheorien sind dann lediglich eine weitere Form von Theorie, Theorien über Verschwörungen, und sollten einzeln auf ihre etwaigen Mängel oder Tugenden geprüft werden (Partikularismus). Dagegen motiviert dieser Aufsatz das Forschungsprogramm der narrativen Modelle. Laut narrativen Modellen sind Verschwörungstheorien in erster Linie Geschichten – also strukturierte Fiktionen. Die für sie relevanten mentalen Einstellungen sind demnach auch Einstellungen der Fiktionalität – Spiele (make-believe) und Imagination. Fiktionen und fiktionale Einstellungen wiederum sind nicht den Normen der Vernunft unterworfen. Sie sind weder rational noch irrational. Narrative Modelle können deshalb Verschwörungstheorien als distinkte Klasse fassen, ohne sie über defizitäre Merkmale herauszugreifen. Darüber hinaus erklären sie bestimmte Merkmale des verschwörungstheoretischen Diskurses besonders gut und sie bieten neue Perspektive auf die Popularität von Verschwörungstheorien und die Interventionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 David Heering https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/417 Die Verschwörungserzählung als profanisierte Hinterwelt 2023-03-02T16:27:50+01:00 Viet Anh Nguyen Duc vietanh.nguyenduc@zfpp.org <p>Geht es um die Frage, welche Faktoren zur Akzeptanz und Verbreitung von Verschwörungserzählungen beitragen, so verweist die Forschungsliteratur zur Erklärung oft auf sehr allgemeine Bedürfnisse, die in der Regel als anthropologische Gegebenheiten aufgefasst werden, wie etwa das Bedürfnis nach Sinngebung und Orientierung. Der vorliegende Artikel weist auf die möglichen Probleme einer anthropologischen Verkürzung der Sachlage bei solchen Erklärungsansätzen hin und formuliert einen genealogischen Ansatz, der es erlaubt, jene Bedürfnisse, die den Verschwörungsglauben begünstigen, als Resultat eines historisch voraussetzungsreichen Subjektivierungsprozesses zu begreifen. Zur Beschreibung jenes Prozesses werden in Auseinandersetzung mit Nietzsches Genealogie der Moral insbesondere die Motive des Ressentiments und der Schuld als Triebkräfte herangezogen, die insbesondere unter säkularen Bedingungen Projektionsweisen befördern, auf denen Verschwörungserzählungen beruhen.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Vieth Anh Nguyen Duc https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/418 Demokratie und Verschwörungstheorien 2023-03-02T16:42:16+01:00 Lucas von Ramin Lucas.vonRamin@zfpp.org <p>Gegenwärtig wird das Wiedererstarken von Verschwörungstheorien explizit als Gefahr für die westlichen Demokratien begriffen. Einerseits, weil Verschwörungstheoretiker*innen die heutige Demokratie als manipuliert betrachten. Für sie wird Demokratie nur vorgespielt, die eigentlichen Entscheidungen werden an anderer Stelle getroffen. Andererseits, weil die Verbreitung genau jenes Glaubens ein Kernelement von Demokratien verunmöglicht: den fairen Streit um das beste Argument. Dabei stehen Verschwörungstheorien der Idee von Demokratie nicht diametral gegenüber, sondern bedienen sich dieser bisweilen als Inspirationsquelle, beispielsweise wenn das Volk sich gegen die Machenschaften einer korrupten Elite wehren soll. Der Beitrag untersucht deshalb, welche Verbindungen zwischen Verschwörungstheorien und Demokratie bestehen. Gibt es eine undurchdringbare Beziehung zwischen beiden Bereichen, die den Umgang mit ihnen zu einem fortdauernden normativen Problem werden lässt? Jener Beziehung wird auf zwei Wegen nachgegangen. Der eine Weg kann als <em>Postfaktizitätsstrang</em> bezeichnet werden. Die These lautet, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, die grob als Poststrukturalismus zusammengefasst werden, ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber etablierten epistemischen und politischen Strukturen transportieren. Diese eigentlich demokratische Öffnung ist dann als Einfallstor für absurde Theorien aller Art zu verstehen. Anhand der Theorien radikaler Demokratie wird diskutiert, weshalb gerade die epistemischen Grundlagen der Demokratie Verschwörungstheorien einen berechtigen Platz im demokratischen Diskurs einräumen sollen und wie sie sich wiederum von dem Diskurs abgrenzen lassen. Der <em>Ideologiestrang</em> dagegen betont nicht eine Auflösung von Gewissheit und damit eine relativistische Grundhaltung, sondern die Rückkehr zu ideologisch aufgeladenen Weltbildern, beispielsweise in völkischen Semantiken. Verschwörungstheorien, so lässt es sich in den Analysen Kritischer Theorie nachlesen, kreieren durch Komplexitätsreduzierung ein Verständnis der Welt, in dem sich entgegen aller globaler Vernetzung wirkliche demokratische Selbstbestimmung zurückerobern lässt. Als Elitenkritik antworten sie so auf Entfremdungsprozesse moderner Gesellschaften. Beide Stränge ergeben eine eigentümliche Gemengelage. Während einerseits der Aufstieg von Verschwörungstheorien auf Komplexitätssteigerung und dem damit verbundenen Zusammenbruch traditioneller und epistemischer Autorität zurückgeführt wird, werden Verschwörungstheorien andererseits als bloße Form der Komplexitätsreduktion verstanden. Folgend gilt zu zeigen, wie sich beide Stränge zueinander verhalten, um einerseits die erneute Popularität von Verschwörungstheorien zu verstehen und anderseits der Gefahr einer Instrumentalisierung demokratischer Semantiken etwas entgegenzuhalten.&nbsp;</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Lucas von Ramin https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/419 Mit MarxVac gegen Verschwörungserzählungen? 2023-03-03T09:31:04+01:00 Steffen Göths steffen.goeths@zfpp.org <p>Verschwörungserzählungen erleben im Zuge der Corona-Krise eine breite gesellschaftliche Beachtung und Anschlussfähigkeit. Dabei bleibt es nicht bei bloßen Agitationsversuchen seitens ihrer Anhänger:innen, sondern es kam zu Übergriffen auf vermeintlich an der Pandemie Schuldige sowie einer versuchten Stürmung des Reichstagsgebäudes im Kontext einer Querdenken-Demonstration. Von Verschwörungsgläubigen kann also tatsächlich eine konkrete Gefahr für diejenigen ausgehen, die innerhalb der Verschwörungserzählung als das Böse markiert werden. Es stellt sich also die Frage, auf welchem Wege hier bereits präventiv gewirkt werden kann. In seinen Überlegungen zur <em>conspiracy theory of society</em> kam Karl Popper zu dem Schluss, dass es sich bei Karl Marx aufgrund seiner Analyse der Gesellschaft um einen wichtigen Akteur gegen Verschwörungserzählungen handele. Popper begründete dies damit, dass Marx den Fokus auf gesellschaftliche Strukturen als Ursache für konkrete Entwicklungen lege, anstatt diese auf das Handeln von Individuen zurückzuführen. Sofern der Bezug auf das individuelle, geheime Handeln verborgener Personen eine Grundstruktur von Verschwörungserzählungen ist, ließe sich also ableiten, dass politische Akteure, deren Gesellschaftsanalyse sich in einer marxistischen Tradition bewegt, deutlich seltener auf Verschwörungserzählungen zurückgreifen dürften. Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismusstudie 2020 bestätigen diese Überlegung insofern, als der Verschwörungsglaube stark mit menschenverachtenden Einstellungen und rechtsradikalen Positionen korreliert. Gleichzeitig konnte bei den Querdenken-Demonstrationen eine breite Beteiligung von Personen jenseits der radikalen Rechten beobachtet werden, was durch Oliver Nachtwey mit den Worten „von links kommend, nach rechts gehend“ beschrieben wurde. Die mögliche Anschlussfähigkeit von Verschwörungserzählungen auch für Personen aus einem sich selbst als links definierenden Spektrum stellt das immunisierende Potential marxistischer Gesellschaftskritik gegenüber dem Verschwörungsglauben in Frage. Der Aufsatz unternimmt den Versuch, die Vereinbarkeit einer marxistischen Gesellschaftsanalyse mit dem Glauben an Verschwörungserzählungen zu prüfen. Dazu werden grundlegende Strukturen von Verschwörungserzählungen, wie etwa das manichäische Weltbild oder der Glaube an die absolute menschliche Handlungsmacht, mit den Prinzipien Marx’schen Denkens kontrastiert. Hierbei soll geprüft werden, welchen Beitrag eine marxistische Analyse zur Kritik an Verschwörungserzählungen leisten kann.</p> 2023-03-28T00:00:00+02:00 Copyright (c) 2023 Steffen Göths