KATHARINA NAUMANN, FREIE UNIVERSITÄT BERLIN &
LARISSA WALLNER, GOETHE-UNIVERSITÄT FRANKFURT A.M.
Zusammenfassung: Ausgehend von Kants Überlegungen zum ästhetischen Urteil zeigen wir, warum Literatur ein spezieller Erkenntnisgrund sein kann: Sie vermittelt nicht diskursiv, sondern exemplarisch. Denn aufgrund ihres sinnlich-intellektuellen Charakters regt Literatur zur Perspektivübernahme und zum Handeln an. Dies birgt nicht nur Potenziale, sondern auch Gefahren, von denen Kant, so unsere exegetische These, jedoch nur einige erkennt, vor allem weil der sozio-politische Kontext, in dem Literatur produziert und rezipiert wird, bei ihm unbedacht bleibt. Zugleich bietet Kants Position zum Exemplarischen Ressourcen, um an dieser Stelle systematisch weiterzudenken. Mit ihrer Hilfe werden wir dafür argumentieren, dass narrative Literatur einerseits die Kraft hat, ihre Rezipient:innen zu ermächtigen: Sie macht Ungesehenes sichtbar, indem sie neue Perspektiven auf das eröffnet, was der Fall ist und darauf, was sein könnte. Mit Blick auf ersteres kann sie bei ihren Leser:innen ein tieferes Verständnis der eigenen Identität, ihrer sozialen Verortung sowie den damit einhergehenden Begrenzungen hervorrufen und als hermeneutisches Vorbild fungieren. Mit Blick auf letzteres stellen literarische Werke Exempel der Einbildungskraft dar, weil sie Reflexionen über die Möglichkeit der Verschiebbarkeit dieser Grenzen und somit über andere Lebens- und Gesellschaftsentwürfe auslösen können. Ganz besonders gilt dies für Werke, in denen marginalisierte oder tabuisierte Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden. Doch andererseits bergen literarische Werke auch die Gefahr, dass durch die Darstellung bestimmte, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse normalisiert werden, insofern das, was als vorstellbar erscheint und das, über das geschwiegen wird, sich gerade innerhalb vorherrschender – imaginärer wie hermeneutischer – Grenzen bewegt. Literatur kann somit auch zur Verschleierung bestehender Machtverhältnisse beitragen und den Möglichkeitssinn der Leser:innen blockieren, indem sie nahelegt, herrschende gesellschaftliche Normen zu internalisieren. Hieraus ergibt sich, dass narrative Literatur nicht nur divers sein muss, um ermächtigend zu sein, sie muss auch auf bestimmte Weise rezipiert werden: nicht passiv konsumierend und gedanklich reproduzierend, sondern im Modus kritischen Selbstdenkens und im Sinne der adaptiven Nachfolge.
Schlagwörter: Exemplarität, Literatur, Kant, Emanzipation, Normalisierung
Abstract: On the basis of Kant’s reflections on aesthetic judgement, we show why literature can be a special source of knowledge: Literature does not mediate discursively, but exemplarily. Because of its sensible-intellectual character, it encourages taking other standpoints and can initiate action. This not only harbours potential, but also perils. Yet, according to our exegetical thesis, Kant only recognises some of these, especially because he fails to consider the socio-political context of writing and reading. At the same time, Kant’s position on exemplarity offers resources for further systematic thinking. Using these resources, we will argue that narrative literature bears the force to empower its recipients: it makes the invisible visible by disclosing new perspectives on what is and what could be. With regard to the former, it can evoke in its readers a deeper understanding of their own identity, their social location and its limitations, and act as a hermeneutic model. With regard to the latter, literary works are examples of imagination. They can provoke reflection on the possibility of shifting these boundaries towards other concepts of life and society. This is particularly true of works that express experiences, which are marginalised or considered taboo. However, literary works can also normalize existing social conditions by depicting them, as these very conditions define what is considered imaginable and what remains unspoken within the dominant interpretive framework. Literature can thus also contribute to the concealment of existing power relations and block the reader’s sense of what is possible by encouraging him or her to internalise prevailing social norms. Consequently, narrative literature must not only be diverse in order to be empowering, it must also be received in a certain way: not passively consumed and mentally reproduced, but in the mode of critical self-reflection and emulation.
Keywords: Exemplarity, Literature, Kant, Disclosure, Subjection
Aus der Fülle der vielfältigen und strittigen Funktionen der Künste in der Gegenwart, sticht eine als vergleichsweise konsensfähig heraus: Kunstwerke kommunizieren Vorstellungen. Und zwar nicht nur im engen Sinn der Vermittlung von Konzepten und Ideen, sondern auch als Vorstellungen, die prozedural in der künstlerischen Praxis oder in der Interaktion mit den Rezipient:innen allererst entwickelt werden (Rebentisch 2017, 29). Verglichen mit der idealerweise klaren und scharfen Begrifflichkeit und Methodologie der Wissenschaften sind die Vorstellungen, die die Künste erforschen und artikulieren, im Erfolgsfall komplexer und mitunter ambivalent. Kunst legt nicht eindeutig fest, was die Rezipient:innen zu erkennen und zu erfahren haben. Stattdessen liegt das Zentrum der ästhetischen Erfahrung in der kreativen Reflexion der Person, die diese Erfahrung macht (Breitenbach 2019, 3). Ästhetische Erfahrung erfordert folglich immer ein imaginatives Engagement, ein aktives Vorstellen der Aspekte, die das Kunstwerk vorschlägt. Für die Literatur gilt dies ganz besonders, weil sie zunächst maximal abstrakt aus schwarzen Buchstaben auf weißem Grund besteht. Was Adorno über den Essay als Form schreibt, gilt demnach a minore ad maius für fiktionale Literatur: sie „mahnt an die Freiheit des Geistes“ (Adorno 2003, 10) und „[d]ie objektive Fülle von Bedeutungen [...] die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird.“ (ibid., 11) Durch dieses mentale und emotionale Engagement und aufgrund der Intensität und Anschaulichkeit, die Literatur entwickelt, kann sie, so unsere These, zu einem speziellen Erkenntnisgrund werden: Sie vermittelt nicht diskursiv, sondern exemplarisch. Ihr kognitiver Wert erschöpft sich dabei nicht in der Vermittlung propositionalen Wissens, sondern umfasst insbesondere auch perspektivische, phänomenale, emotionale und ethische Erkenntnisse (Vendrell Ferran 2018, 329; Hasan, Fumerton 2024) – und zwar keinesfalls nur solche über die literarische Welt, sondern gerade auch über „die Realität“, weil „verschiedene Aspekte der Welt durch fiktionale Literatur zugänglich“ werden (Venndrell Ferran 2018, 330). Zugleich folgt daraus eine praktische Wirksamkeit von Literatur, weil diese Erkenntnisse die eigenen Haltungen und Entscheidungen informieren und beeinflussen können (ibid.).
Vor diesem Hintergrund werden wir im Folgenden dafür argumentieren, dass literarische Werke einerseits die Kraft haben, ihre Rezipient:innen zu ermächtigen. Denn Literatur macht bisher Ungesehenes sichtbar, indem sie neue Perspektiven auf das eröffnet, was der Fall ist und darauf, was sein könnte (Camp 2009; Gibson 2009, 467). Mit Blick auf ersteres kann Literatur bei ihren Rezipient:innen ein tieferes Verständnis der eigenen Identität, ihrer sozialen Verortung sowie den damit einhergehenden Grenzen hervorrufen und als hermeneutisches Vorbild fungieren. Mit Blick auf letzteres stellen literarische Werke Exempel der Einbildungskraft dar, weil sie eine Reflexion über die Möglichkeit der Verschiebbarkeit dieser Grenzen und somit über andere Lebens- und Gesellschaftsentwürfe auslösen können. Ganz besonders gilt dies für Werke, in denen marginalisierte oder tabuisierte Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden. Doch andererseits – und in Debatten über den kognitiven Wert von Literatur bisher weit weniger thematisiert – bergen literarische Werke auch die Gefahr, dass durch sie bestimmte, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse normalisiert werden, insofern das, was als vorstellbar erscheint, und das, über das geschwiegen wird, sich gerade innerhalb vorherrschender – imaginärer wie hermeneutischer – Grenzen bewegt, denen selbst unsere Einbildungskraft oftmals unterworfen ist. Diese Janusköpfigkeit des Exemplarischen in der Literatur werden wir unter Rekurs auf systematische Überlegungen der kantischen Ästhetik analysieren, wobei zugleich deren Potenzial für Fragen der sozio-politischen Bedeutung von Exemplarität und Einbildungskraft ausgelotet wird.
Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bilden Kants einschlägige Positionen zum ästhetischen Urteil und zur Rolle, die Einbildungskraft und Exemplarität in seinen Überlegungen zur Literaturproduktion und -rezeption spielen (2.). Darauf aufbauend arbeiten wir die Potenziale und Gefahren heraus, auf die Kant bezüglich der Wirkung von Literatur in verschiedenen Bereichen hinweist (3.). Vor dem Hintergrund dessen, was Kant nicht sieht, werden schließlich die in der Auseinandersetzung mit seiner Ästhetik gewonnenen Einsichten herangezogen, um die sozio-politische Bedeutung von Literatur zwischen Ermächtigung und Unterwerfung zu analysieren (4.).
Kant behandelt die Literaturproduktion in § 51 der Kritik der Urteilskraft unter dem Titel der Dichtkunst, die mit der Rhetorik zur redenden Kunst zählt (KU 5:320).1 Er nennt die Dichtkunst dort „ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen“ (ibid:321) und behauptet, „der Dichter kündigt bloß ein unterhaltendes Spiel mit Ideen an, und es kommt doch so viel für den Verstand heraus, als ob er bloß dessen Geschäft zu betreiben die Absicht gehabt hätte.“ (ibid.)2 Er verschaffe dem Verstand spielend Nahrung und gebe seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben (ibid.) Die Dichtkunst, so Kant,
erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den Schranken eines gegebenen Begriffs unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt. (KU 5:326)
Den Hintergrund für Kants Position zur Literatur bildet das ästhetische Urteil über das Kunstschöne.3 Folgt man Kant, so bezieht sich dieses im Gegensatz zum Erkenntnisurteil nicht primär in erkennender Absicht auf den schönen Gegenstand, sondern fokussiert darauf, was die Begegnung mit dem schönen Gegenstand in den Betrachter:innen auslöst.4 Als Reflexionsurteil ist es kein Urteil der bestimmenden Urteilskraft, also dem Vermögen das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren, sondern der reflektierenden Urteilskraft, dem Vermögen, vom Besonderen ausgehend auf die allgemeine Regel zu schließen (KU 5:BXXVI). Im ästhetischen Urteil über das Kunstschöne, das – mit Ausnahme von Musik, Ornament und abstrakter Malerei (Reiter & Geiger 2023, 361) – Begriffe einbezieht, bedeutet dies, dass der partikulare Gegenstand, der beurteilt wird, als schön erkannt wird, d.h. in die Menge derjenigen Gegenstände aufgenommen wird, für die das Urteil gilt „dies ist schön“. Obwohl es sich dabei um ein Einzelnes handelt, das materialiter zu einer Zeit an einem Ort eine ästhetische Stellungnahme provoziert (Brandt 1998), handelt es sich nicht um einen äußeren raum-zeitlichen Gegenstand. Den schönen „Gegenstand“ bilden in dem Fall, der uns hier interessiert, vielmehr die Vorstellungen, die durch fiktionale Literatur evoziert werden.5
Schöne Gegenstände haben gemein, dass sie in den Betrachter:innen einen Zustand ästhetischer Lust auslösen, da sie deren Einbildungskraft und deren Verstand in ein freies, jedoch harmonisches Spiel versetzen (KU 5:329). Es gibt dennoch keine allgemeinen Kriterien für Schönheit, weil der Gegenstand sich zwar unter Einbezug, aber nicht aufgrund von Begriffen als schön erkennen lässt. Ästhetische Urteile beziehen sich nämlich nicht mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit auf äußere Gegenstände, sondern auf die kognitiv-emotionale Reaktion des Subjekts. Sie sind aber subjektiv allgemeingültig: In ihnen sinnen wir, wie Kant formuliert, anderen allgemeine Zustimmung an. Bisher haben wir gezeigt, dass sich das ästhetische Urteil über das Kunstschöne laut Kant dadurch auszeichnet, dass es sich auf ein Einzelnes bezieht und mit dem Anspruch auf subjektive Allgemeingültigkeit gefällt wird. Um den Nexus von Literatur, Einbildungskraft und Exemplarität zu verstehen, gilt es nun die Rolle der Einbildungskraft herauszuarbeiten.
Einbildungskraft wird von Kant allgemein als „ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes“ (Anth 7:165) definiert. Dabei unterscheidet er zwischen zwei Fähigkeiten: erstens der zur ursprünglichen Darstellung eines Gegenstandes, wenn sich eine Person einen Sachverhalt oder ein Ereignis erstmals ausdenkt und zweitens der Fähigkeit, etwas zu erinnern, das schon einmal erlebt wurde (ibid.). In beiden Fällen handelt es sich um kontrafaktisches Vorstellen, weil jeweils etwas vor dem Geist bildlich dargestellt wird, was gerade nicht wahrgenommen wird. Die Einbildungskraft ist die Grundlage all das zu denken, was nicht im strengen Sinne ist, aber war oder sein könnte. Da literarische Werke immer über das hinausgehen, was im strengen Sinn ist, ist die Einbildungskraft nicht nur rezeptionsästhetisch von Bedeutung, sondern auch produktionsästhetisch. Insofern Kunstwerke laut Kant schöne Vorstellungen sind (KU 5:311), sind sie mentale Repräsentationen, die – so lässt sich über Kant hinausgehend vertreten – erst simultan im Prozess ihrer ästhetischen Beurteilung entstehen, nämlich im erwähnten freien, aber harmonischen Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand. Auch die ästhetische Idee, die sich im Kunstwerk artikuliert, ist eine Koproduktion von reflektierender Urteilskraft und Einbildungskraft (Wallner 2024, 478–529). Kant nennt sie eine „Vorstellung der Einbildungskraft [...] die viel zu denken veranlaßt, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ (KU 5:314).6
Literatur schafft daher ganze Welten und präsentiert teils eine übersteigerte oder verdichtete Wirklichkeit, teils stellt sie einen bestimmten Aspekt ins Zentrum ihrer Darstellung. Nach diesem kantischen Verständnis von Literatur dient ein literarischer Text nicht dazu, eine bestimmte oder mehrere bestimmte Aussagen konkret zu vermitteln (Sontag 2009, Scholz 2012). Zwar ist ein Kunstwerk Ausdruck einer Vorstellung, die das kunstschaffende Subjekt kommuniziert. Doch erstens legt das künstlerische Subjekt den Sinn seiner Arbeit nicht fest. Dies schreibt Kant zwar nicht explizit, es ergibt sich aber aus dem Hinweis, dass es keine Regel zur Herstellung schöner Kunstwerke gibt (KU 5:309) und daraus, dass kein freies Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand stattfände, ließe sich eine bestimmte Bedeutung oder Lesart eines Kunstwerks ermitteln (KU 5:309). Zweitens erkennt er, dass das kunstschaffende Subjekt selbst nicht immer genau weiß, was es tut, weil die meisten Vorstellungen und Überzeugungen, die wir haben, unbewusst sind (Anth 7:135, KU 5:308).
In Ermangelung einer Regel für die Kunstproduktion schafft das besonders begabte künstlerische Subjekt blind, indem es sein Talent („Genie“) durch sich sprechen lässt (Clewis 2023, 125). Zum einen kann es keine produktionsästhetische Regel geben, weil das ästhetische Urteil als Reflexionsurteil ausgehend vom Konkreten, das ihm übergeordnete Allgemeine allererst sucht, statt eine gegebene Regel auf einen Einzelfall anzuwenden. Zum anderen muss es, meint Kant, dennoch eine Regel geben, weil Kunstwerke keine natürlichen oder willkürlichen Erzeugnisse sind, sondern als menschliche Werke intentional und daher auch regelhaft hergestellt sein müssen (KU 5:307). Diese Regel kann aber in „keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen“ (KU 5:309). Denn sonst würde das Urteil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar sein und kein freies Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand ermöglichen. Und es ist ebendieser Kontext, in dem sich Kant explizit mit Fragen der Exemplarität befasst.
Mit Blick auf die Regel der Kunstproduktion vertritt Kant die Ansicht, diese müsse „von der Tat, d.i. vom Produkt abstrahiert werden, an welchem andere ihre eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster nicht der Nachahmung, sondern der Nachfolge dienen zu lassen“ (KU 5:310). Im Gegensatz zur bloß äußerlichen Nachahmung bestimmter Techniken und Stile besteht die Nachfolge darin, dass im Nachfolgenden das „Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird“ (KU 5:318). Kant stellt klar, dass Nachfolge „der rechte Ausdruck für allen Einfluß, welchen Produkte eines exemplarischen Urhebers auf andere haben können“, ist (KU 5:283). Auch der Dichter7, dessen Schaffen nach Kant auf einer besonderen Begabung beruht, die geübt, aber nicht gelernt werden kann, lernt durch Nachfolge (KU 5:318). Andere große Literatur bzw. das darin zum Ausdruck kommende literarische Schaffen anderer dient ihm demnach nicht bloß als Beispiel, das nur „das Besondere (concretum) [...] unter dem Allgemeinen“ (MS 6:479 Fn.) ist, sondern als Exempel, also als „ein besonderer Fall von einer praktischen Regel“ (ibid.).
Im Anschluss an Kant lässt sich somit systematisch zwischen illustrativen Beispielen (Beispiele im engeren Sinne), die ein Allgemeines veranschaulichen, und exemplarischen Beispielen (Exempel) differenzieren, bei denen das „Individuelle selbst als Ausdruck des Allgemeinen [gilt], das seinerseits wiederum nur in konkreter Gestalt erfasst werden kann“ (Summa und Mertens 2022, VIII). Demnach ist ein Beispiel exemplarisch, wenn darin, obzwar zunächst partikular, eine Normativität zum Ausdruck gebracht wird, die ihm Geltung für eine Vielzahl anderer ähnlicher Gegenstände gibt.8
Literatur lässt sich deshalb als metaphorisch statt als allegorisch begreifen. Metapher und Allegorie unterscheiden sich dadurch, dass die Allegorie ein allgemeines Gesetz durch ein Beispiel illustriert: Die allgemeine Regel x = y wird dargestellt durch einen partikularen Fall von x = y, beispielsweise A. A wird in seiner Bedeutung vollständig von x = y bestimmt. Währenddessen beruht die Metapher auf einer Analogie und der Verbindung von Ähnlichem, das sich im Sinne des „framings“ oder „seeing-as“ begreifen lässt (Camp 2009). Ihre Bedeutungsfülle übersteigt jene der Allegorie. Einer der Gründe, warum Literatur exemplarisch sein kann, liegt in ihrem Bedeutungsüberschuss. Ein anderer liegt in der Lebendigkeit der literarischen Form, die darauf beruht, dass die Einbildungskraft im ästhetischen Urteil das Gemüt stärkt, „indem sie es sein freies, selbsttätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt“ (KU 5:326). Dementsprechend gilt gerade auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive, dass Literatur den Leser:innen ihre Inhalte nicht nur diskursiv, sondern exemplarisch vermittelt. Statt bloß Bekanntes zu illustrieren, hat sie die Kraft, Neues zu vermitteln, indem sie am Singulären etwas Allgemeines erkennbar macht, mitunter etwas, das (noch) nicht benannt werden kann. Indem sie die Autonomie des Subjekts provoziert (ibid.) und dieses intellektuell-affektiv verlebendigt, kann Literatur zugleich praktisch wirksam werden.
Zwar bilden Kants ästhetische Überlegungen in der Kritik der Urteilskraft das Gravitationszentrum seiner Auseinandersetzung mit Literatur. Doch es finden sich weitere Kontexte, in denen er sich insbesondere mit der Wirkung von narrativer Literatur auseinandersetzt. So sind Romane und Biografien nicht nur ästhetisch wertvoll, sondern auch praktisch. Kant erwähnt ihren Nutzen hinsichtlich der Gesundheit des Gemüts, der moralischen Bildung und der Gewinnung anthropologischer Kenntnisse. Diesbezüglich werden wir zeigen, dass er in den beiden erstgenannten Kontexten zwar Sensibilität für die mitunter ambivalente Wirkung von narrativer Literatur erkennen lässt, hinsichtlich des letztgenannten Kontexts hingegen gänzlich blind dafür zu sein scheint.
Während im Vorherigen bereits das benannt wurde, was für den ästhetischen Wert der Literatur wesentlich ist, nämlich dass sie „die Einbildungskraft in Freiheit setzt“ (KU 5:326) und dadurch das Gemüt nicht nur erweitert, sondern auch stärkt, weist Kant in der Anthropologie auf eine weitere Wirkung von Literatur auf das Gemüt hin. Er nennt Literatur dort ein Mittel zur Zerstreuung, d.i. „der Zustand einer Abkehrung der Aufmerksamkeit (abstractio) von gewissen herrschenden Vorstellungen durch Verteilung auf andere, ungleichartige.“ (Anth 7:206) Sich zu zerstreuen besteht demnach darin, seiner „Einbildungskraft eine Diversion [zu] machen“ und dies sei „ein notwendiges, zum Teil auch künstliches Verfahren der Vorsorge für die Gesundheit seines Gemüts“ (Anth 7:207). Denn es ermögliche uns gedanklich von etwas loszulassen, dass uns andernfalls „festhält“. Zugleich bestehe dabei die Gefahr, es zu übertreiben und die Zerstreuung habituell werden zu lassen, was mitunter zu Vergesslichkeit führen könne – als besonders gefährdet sieht Kant die „Romanleserinnen“.9 Kritisch bemerkt er, dass oftmals mit einer konsumistischen Haltung gelesen wird, nämlich mit der bloßen Absicht, sich zu unterhalten. Darüber hinaus ist er der Ansicht, dass diese „Übung in der Kunst, die Zeit zu töten“, abgesehen von der „phantastischen Gemütsstimmung, welche sie hervorbringt, einer der feindseligsten Angriffe aufs Gedächtnis“ (Anth 7:185) sei. Daher folgert er: „Es ist also eine nicht gemeine Kunst, sich zu zerstreuen, ohne doch jemals zerstreut zu sein.“ (Anth 7:208)
Eine ähnliche Ambivalenz lässt sich mit Blick auf Kants zahlreiche verstreute Bemerkungen zum Nutzen der Literatur für die moralische Bildung ausmachen. In diesem Kontext erweist sich Literatur grundsätzlich als ein wichtiges Hilfsmittel, weil sie sowohl Beispiele dessen liefert, was die Pflicht gebietet, als auch Exempel moralisch guten Handelns bzw. der Tugend, die zur Nachfolge ermuntern. In Bezug auf Beispiele verweist Kant vor allem auf die Tauglichkeit von Biografien. Dabei betont er, dass nachdem man Kindern die Pflichten gelehrt habe, das Heranziehen von Biografien zunächst „Belege zu den vorgelegten Pflichten“ (KpV 5:154) liefere, sodann aber vor allem der Schärfung der Urteilskraft dienen könne. Darüber hinaus habe dies den Effekt, dass die Schüler:innen dabei selbst den „Fortschritt der Urteilskraft“ (ibid.) in ihren affirmativen und ablehnenden Urteilen fühlen. Denn diese Lektüre lässt, so Kant, einen anhaltenden „Eindruck der Hochschätzung auf der einen und des Abscheues auf der andern Seite [...]“ zurück. (ibid.). Diese Art von Kasuistik vermag zwar noch keine wahre Moralität hervorzubringen, aber sie kann, weil sie das Interesse an der Moral weckt, propädeutisch wirken. Geht es um die Herausbildung und Wahrung bzw. Kräftigung echter Moralität, bedarf es nicht bloß der Beispiele, sondern vielmehr lebhafter Exempel, welche das „Gemüth bis zur Begeisterung […] erheben“ (RGV, 6: 48ff.) und zwar „durch Darstellung, die sich an die Einbildungskraft der Heranwachsenden wendet“ (Koch 2003, 379). Dabei dient das wohlgewählte Exempel gerade nicht zur Nachahmung einzelner Handlungen, sondern ermuntert zur Nachfolge, indem es erkennen lässt, dass man seine Pflicht tun solle und zugleich dass man dies auch könne (Naumann 2020, 158f.). Das Exempel macht uns nämlich auf unsere „innere Freiheit“ und „die Achtung für uns selbst“ (KpV 5:161) aufmerksam. Das heißt, damit der Pflichtbegriff Eingang ins Gemüt findet, bedarf es sowohl rationaler Einsicht als auch lebhafter Empfindung (Recki 2001, 306). Menschen, die scheinbar entgegen all ihren Neigungen das Richtige tun, sind dabei besonders als Exempel geeignet. Sie erwecken Bewunderung und den „lebhaften Wunsche, selbst ein solcher Mann sein zu können (obzwar nicht in seinem Zustande)“ (KpV 5:156). Die Exemplifikation des moralischen Gesetzes versetzt uns also in die Lage, das Allgemeine am Einzelnen zu erkennen und literarische Exempel – Kant verweist dabei u.a. auf einen Vers Juvenals (KpV 5:158f.) – scheinen dazu aufgrund ihres sinnlich-intellektuellen Doppelcharakters besonders geeignet zu sein (Klingner 2023, 6).
Allerdings darf das Exempel nicht auf enthusiastischen Gefühlsschwang zielen, da dies dem Handeln falsche Motive unterlegen würde, was zu „lauter moralische Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels“ (KpV 5:84) führt. Damit fiktionale Literatur einen Nutzen für die moralische Bildung hat, muss sie besonders sorgfältig ausgewählt und aufbereitet werden, sodass sich das Interesse nicht an falsche Inhalte heftet (Naumann 2020, 162f.). Kant empfiehlt, die Jugend „mit Beispielen sogenannter edler (überverdienstlicher) Handlungen, mit welchen unsere empfindsame Schriften10 so viel um sich werfen, zu verschonen“ (KpV 5:155). Denn dies würde „auf leere Wünsche und Sehnsuchten nach unersteiglicher Vollkommenheit“ hinauslaufen und „lauter Romanhelden“ hervorbringen (ibid.). Stattdessen sei „alles blos auf Pflicht und den Werth, den ein Mensch sich in seinen eigenen Augen durch das Bewußtsein, sie nicht übertreten zu haben, geben kann und muß, auszusetzen.“ (ibid.) Es kommt also auch hier vor allem auf die richtige Rezeption an.
Schließlich beschreibt Kant die Literatur in der Einleitung der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als eines der „Hilfsmittel“ der Anthropologie. Diese seien
Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane. Denn obzwar beiden letzteren eigentlich nicht Erfahrung und Wahrheit, sondern nur Erdichtung unterlegt wird, und Übertreibung […] hier erlaubt ist, jene also nichts für die Menschenkenntnis zu lehren scheinen, so haben doch jene Charaktere […] ihren Grundzügen nach aus der Beobachtung des wirklichen Tuns und Lassens der Menschen genommen werden müssen: weil sie zwar im Grade übertrieben, der Qualität nach aber doch mit der menschlichen Natur übereinstimmen müssen. (Anth 7:121)
Literatur hat folglich auch in diesem Kontext für Kant epistemischen Wert. Wenn sie auch kein propositionales Wissen über den Menschen vermitteln kann, so liefert sie aber perspektivische Erkenntnis (Tomasi 2024, 322), also solche, die die subjektive Dimension menschlicher Erfahrung kennzeichnet, die immer von einem Standpunkt aus gemacht wird (ibid., 320). Zugleich fällt auf, dass Kant nun gerade in diesem Kontext keine Ambivalenz wahrnimmt und nicht dezidiert auf die mit der Wirkung von Literatur verbundenen Gefahren der Verstärkung und Normalisierung bestimmter Perspektiven eingeht. Ausgehend von diesem Befund werden wir im Folgenden skizzieren, wo die Grenzen der kantischen Überlegungen liegen und wie man diese produktiv weiterdenken kann.
In Kants Überlegungen zum Exemplarischen in der Literatur sind die ermächtigende und die unterwerfende Wirkung von literarischer Exemplarität angelegt. Er zieht jedoch nicht alle möglichen Schlüsse: Wie die vorhergehenden Überlegungen gezeigt haben, erkennt er, dass das Exemplarische nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine epistemische Funktion besitzt, weil es zuvor unsichtbare Aspekte des Wirklichen erkennbar macht. Das zeigt sich insbesondere in der Überlegung, dass Literatur ein Hilfsmittel der Anthropologie sein kann. Wenn Literatur in diesem Kontext tatsächlich perspektivische Erkenntnis offenbart, dann eignet sich belletristische Lektüre, so unsere These, zur Einübung in die erweiterte Denkungsart, die der zweiten der drei Regeln des gemeinen Menschenverstandes entspricht. Diese allgemeine Regel der Ausübung des Verstandes soll hier auf den speziellen Fall literarischer Produktion und Rezeption bezogen werden. Die erweiterte Denkungsart betrifft die Urteilskraft: Menschen sollen, um richtig zu urteilen, „[a]n der Stelle eines jeden anderen denken“ (KU, 5:294). Dies bedeutet, sich „über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind“, hinwegzusetzen und „aus einem allgemeinen Standpunkte [...] über sein eigenes Urteil“ zu reflektieren (KU, 5:295). Bezüglich der Frage, wie die erweiterte Denkungsart zu erreichen ist, zeigt sich in dieser Passage eine Spannung, mit der sich systematisch weiterdenken lässt: Zum einen empfiehlt Kant das Absehen von allem Partikularen der eigenen Perspektive, um zu einem allgemeinen Standpunkt zu gelangen. Zum anderen behauptet er, die erweiterte Denkungsart ließe sich dadurch erreichen, dass man „sich in den Standpunkt anderer versetzt“ (ibid.).
Folgt man der ersten Überlegung, so müsste man den „Standpunkt des verallgemeinerten Anderen“ (Benhabib 1989, 468) einnehmen und „von der Individualität und konkreten Identität des Anderen“ (ibid.) abstrahieren. Somit blendet man die Situation aus, in der sich andere befinden – aber auch den möglicherweise persistierenden Einfluss des eigenen Ausgangspunkts. Dieses Verständnis scheint ursächlich dafür zu sein, dass Kant mit Blick auf die Literatur als Hilfsmittel der Anthropologie die sozialen, kulturellen und politischen Kontexte verkennt, in denen Literatur produziert und rezipiert wird.11 Dabei rückt Literatur immer bestimmte Perspektiven in den Vordergrund und unter Bedingungen sozialer Ungleichheit und menschlicher Vielfalt sicherlich nicht alle gleichermaßen. Kant problematisiert jedoch nicht, wer schreibt, aus welcher Perspektive und zu welchen Inhalten geschrieben wird sowie wessen und welche Texte vertrieben werden. Das Problem zeigt sich nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch in seinem eigenen Umgang mit anthropologischen Reiseberichten (Lu-Adler 2022, 13–18). Ebenso verkennt er, dass die Perspektive der Leser:innen nie neutral ist: Sie treten immer schon mit bestimmten Hintergrundannahmen an Texte heran, die ihrerseits auch durch ihre historisch-soziale Situiertheit und ihre Individualität geprägt sind. Gerade weil Kant zwar davon ausgehen muss, dass literarische Produktion an die Erfahrung der Autor:innen zurückgebunden ist, zugleich aber deren Situiertheit überhaupt nicht in den Blick nimmt,12 scheint ihm diese Gefahr, die mit der Orientierung an Literatur einhergeht, zu entgehen.
Folgt man dagegen der zweiten Überlegung, müsste man den „Standpunkt des konkreten Anderen“ (Benhabib 1989, 468) einnehmen, indem man von der Betrachtung pluraler Individuen „mit einer konkreten Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Verfassung“ (ibid.) ausgeht. So ergibt sich eine Möglichkeit, mit Kant über seine expliziten Einsichten hinauszudenken. Da Kant die Einbildungskraft als das Vermögen definiert, kontrafaktisch zu imaginieren, lässt sie sich als Grundlage für die Übernahme des Standpunkts eines jeden konkreten anderen konstruieren: Sie umfasst, vorbehaltlich epistemischer Grenzen, die Fähigkeit, zu verstehen, was jemand fühlt und denkt; mehr noch, an seiner Stelle zu fühlen und zu denken. Gerade Literatur kann hierbei eine „enthüllende“ Wirkung entfalten, indem sie uns exemplarisch andere Standpunkte vor Augen führt. Da dies auf eine Weise geschieht, die zugleich sinnlich affiziert und belebt – weil das Gemüt, wie Kant betont, durch Literatur „unmittelbar zur Tätigkeit aufgeweckt wird“ (Anth 7: 246) –, hat Literatur nicht nur einen epistemischen Wert, sondern auch eine praktische Wirkung. Auch wenn sich die Seinsweisen anderer nicht vom Lehnstuhl aus erschließen lassen und es Erfahrungen gibt, die sich grundsätzlich nicht durch Standpunktübernahme begreifen lassen, gilt: Literatur initiiert auf eine intensive, inspirierende Weise die Reflexion über die Verschiebbarkeit dieser Grenzen und das Nachdenken über andere Lebens- und Gesellschaftsentwürfe (Haraway 1998, 68f.). LeGuin fasst diesen Gedanken in der Feststellung, dass für sie die epistemische Bedeutung ihrer eigenen Science-Fiction-Utopien darin liegt, der Einbildungskraft überzeugende, alternative Wirklichkeiten anzubieten.
The important thing is [...] to dislodge my mind, and so the reader’s mind, from the lazy, timorous habit of thinking that the way we live now is the only way people can live. It is this inertia that allows the institution of injustice to continue unquestioned. (LeGuin 2016, 208)
Der Einsatz der Einbildungskraft und die performative Kraft von Sprache sind nicht rein deskriptiv, weil das, was literarisch dargestellt wird, in der Rezeption nicht nur Gegenstand eines ästhetischen Urteils, sondern in der Reflexion auf die ästhetische Erfahrung auch Gegenstand eines politischen und moralischen Urteils werden kann.13 Ein literarisches Werk entfaltet genau dann eine besonders starke emanzipative Kraft, wenn das, was dargestellt wird, als exemplarisch begriffen wird und vice versa: das, was eine intensive normative Kraft entwickelt, gilt als exemplarisch. Ein signifikanter Anteil der normativen Geltung der Literatur beruht demnach auf dem Exemplarischen, das als Quelle von Normativität präskriptiv ist. Das Exemplarische tritt nicht in einem überhistorischen, sozialen Vakuum auf, sondern wird stets im Kontext gesellschaftlicher Wirklichkeit illokutiv („dieses“) als exemplarisch behauptet, wodurch zugleich immer auch auf Bestehendes zurückgegriffen wird (Zagzebski 2010, 50). In diesem Sinne rekurriert Arendt zur Illustration des Exemplarischen auf den Satz „Mut ist wie Achilles“ (Arendt 2021, 119) und meint damit, dass der griechische Heros zwar den Mut nicht per se erfunden, ihm jedoch eine vorbildhafte Verkörperung verliehen hat. Gleichermaßen ließe sich sagen, „Mut ist wie Gisèle Pelicot“.
Folgt man McNay, so beruht die normative Stärke des Exemplarischen gerade auf dieser Erschließung, dem Sichtbarmachen von bis dato zumindest im Mainstream unsichtbaren Realitäten (McNay 2019, 140; dazu siehe auch Ferrara 2008). Dieses Verständnis des Sichtbarmachens oder der Welterschließung setzt demnach einen Begriff hermeneutischer Marginalisierung voraus: Erschlossen werden muss etwas nämlich nur dann, wenn eine Blindheit vorherrscht, die nicht einmal auf absichtlichen Verschleierungstaktiken beruhen muss. Derartige Ausschlüsse führen daher regelmäßig zu hermeneutischer Ungerechtigkeit gegenüber jenen, deren soziale Erfahrung aufgrund struktureller Identitätsvorurteile keinen Niederschlag in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen finden. Denn dies kann zur Folge haben, dass sie aufgrund mangelnder Begrifflichkeiten Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Erfahrungen angemessen zu verstehen (Fricker 2007, 155).14 Selbst dort, wo Betroffene über entsprechende, innerhalb einer unterdrückten Gruppe geteilte Ressourcen zur Erschließung der eigenen Erfahrungen verfügen, sind sie regelmäßig Opfer von willful hermeneutical ignorance. Letztere liegt vor, wenn Angehörige privilegierter Gruppen sich eigennützig weigern, diese Ressourcen anzuerkennen (siehe Polhaus 2012).
Dem Exemplarischen, so unsere Ausgangsüberlegung, wohnt daher ein Potenzial zur Überwindung solcher Ungerechtigkeiten inne, gerade weil es soziale Erfahrungen erschließbar macht. Gegen die Kritik, die Erschließung von sozialen Erfahrungen ausgehend vom Exemplarischen sei unsystematisch und irrational, verteidigt McNay seine Relevanz folgendermaßen: „It is through disclosure of previously unarticulated experiences, meanings and values that sedimented perceptions of the world are shifted and new possibilities for [...] thought and action fostered.“ (McNay 2019, 129) Das Sichtbarwerden durch das Exemplarische hat demnach nicht nur politische, sondern auch methodologische Relevanz (ibid., 148).
Bezieht man diese Überlegungen auf Literatur, kann die Erschließungsfunktion des Exemplarischen, wie wir zeigen werden, sowohl auf Seite der Autor:innen als auch der Leser:innen stattfinden. Narrative Fiktion ermöglicht produktionsästhetisch einen detaillierten und experimentellen Entwurf von Subjektivität und Identität zwischen Enthüllung und Konstruktion. Kant besitzt implizit wesentliche Elemente der enthüllenden Artikulationsfunktion als Sichtbarmachen marginalisierter Subjektivität im literarischen Schreiben. Er beschreibt in einer Passage der Anthropologie Denken als Sprechen mit sich selbst (Anthr, 7:192) und Sprache als eine Art der Bezeichnung von Gedanken (ibid., 7:192). Er erklärt, „die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen.“ (ibid.) Schreiben ist demnach per se eine explorative und transformative Praxis, insofern der Schreibprozess Gedanken zu Tage fördert, die „man sein Leben nicht gehabt hat“ (AA XXIV:484).15 Paradigmatisch zeigt sich dies im Genre der Autofiktion und Autotheorie, das sich methodisch durch den strategischen Einsatz von, sich-selbst-fiktionalisierenden Subjektivierungsprozessen auszeichnet (Fournier 2021).16 Im autofiktionalen Schreiben, das ultimativ nah an persönlicher Erfahrung ist, die als primäre Informationsquelle fungiert, kann sich eine individuelle, eigene als auch eine kollektive Stimme entwickeln, die es historisch so noch nicht gegeben hat.17 Dies geschieht, indem sich Autor:innen durch das Schreiben nicht nur ihrer gesellschaftlichen Gewordenheit und Wirklichkeit bewusst werden, sondern in dieser Auseinandersetzung auch ihrer eigentlichen Partikularität gewahr werden, eine eigene Stimme entwickeln und Deutungshoheit für sich beanspruchen. Da literarische Fiktion andere Widerstände bietet, als die soziale, intersubjektive und von sozialen Normen bestimmte Wirklichkeit – weil sie auf der Einbildungskraft, der Fähigkeit Kontrafaktisches vorzustellen und der transformativen Performativität der Sprache basiert - ermöglicht sie einen höheren Freiheitsgrad für Identitätsentwürfe. Fiktion markiert dementsprechend nicht so sehr die Differenz von Wahrheit und Lüge, sondern ermöglicht das Neuerzählen, die Perspektivübernahme, die Reflexion und Gestaltung erfahrener, gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bereits kanonisch gewordene Beispiele hierfür sind Didier Eribons Rückkehr nach Reims und Annie Ernauxs Mémoire de fille oder auch die Autotheorien von Maggie Nelson in The Argonauts und Chris Kraus in I love Dick.
Rezeptionsästhetisch beruht der emanzipatorische Effekt darauf, dass die Lesenden ihre Perspektive erweitern, indem sie bestimmte Existenzmodi, Subjektivitäten, Lebensformen und Weltbeziehungen exemplarisch nachvollziehen. Dies gilt für autofiktionale wie für herkömmliche Belletristik: Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen ermöglicht unter anderem Einblicke in die psychische und physische Lebensrealität einer jungen Frau aus der Arbeiterschicht, die von sozialem Aufstieg und ein bisschen Glamour träumt, aber an Geschlechterrollen und ökonomischen Zwängen der 1930er scheitert. Assembly von Natasha Brown zeigt, wie die kolonialistische Vergangenheit den alltäglichen Kampf von People of Colour, die es scheinbar geschafft haben, ihrer sozialen Herkunft zu entkommen, noch immer unterminiert. Werke dieser Art können in zweierlei Hinsicht eine Disclosure-Funktion18 entwickeln, nämlich in Abhängigkeit davon, wer sie liest: Wenn sie von Personen rezipiert werden, die sich in einer den Protagonist:innen vergleichbaren Situation befinden, kann von In-Group-Disclosure gesprochen werden. Damit ist gemeint, dass ein literarischer Text jemandem etwas über seine eigene soziale Situiertheit und die damit möglicherweise einhergehenden Kämpfe vor Augen führen kann, das zuvor noch nicht in gleicher Weise begreifbar und benennbar war. Dementsprechend liegt hierin ein Potenzial zur Überwindung hermeneutischer Ungerechtigkeit. Denn dadurch wird eine Art geteilter Erfahrung möglich, die ihrerseits die eigenen Probleme nicht als individuelle, sondern als strukturelle erkennbar macht. Die Gewinnung dieser konzeptuellen und emotionalen Ressourcen fördert das Bewusstsein der eigenen Identität, ermöglicht das Begreifen der mit dieser einhergehenden strukturellen Erfahrungen und aufbauend hierauf eine politische Handhabung. Out-Group-Disclosure ist demgegenüber die augenöffnende Wirkung, die Texte auf eine Leserschaft aus anderen sozialen und kulturellen Kontexten entfalten, die ihrerseits ein Potenzial zur Überwindung von willful hermeneutical ignorance beinhaltet.19 Beispielhaft für eine Out-Group-Disclosure, da es von einem großen Publikum rezipiert wurde, das großteils selbst nicht queer ist, ist Kim de L’Horizons Blutbuch, das die mit queerer Identität einhergehenden Erfahrungen einem breiten Publikum vermittelt hat. Damit kann Literatur einen Beitrag zur Hinterfragung von eigenen Privilegien und den zugrundeliegenden sozialen Strukturen leisten.
Während Literatur dieses emanzipative Potenzial hat, trägt ein Großteil der produzierten und konsumierten Literatur freilich nicht zu dieser Erschließung hermeneutischer und testimonialer Ressourcen bei. Zunächst ist es statistisch gesehen eine Ausnahme, dass literarische Texte ein breites Publikum erreichen: Nach einer Studie von 2023 liest nur etwa die Hälfte der Deutschen, die sich männlich identifizieren (46,7%), überhaupt einmal im Monat in einem Buch, bei den Frauen liegt diese Zahl mit 65,8% höher (IfD Allensbach 2023).20 Ein tieferliegendes Problem besteht jedoch darin, dass Literatur selbst weder in einem idealen, herrschaftsfreien Raum produziert noch rezipiert wird. Dementsprechend kann das Exemplarische der Literatur sogar auf mehrfache Weise den Status quo stabilisieren und normalisieren. Dies betrifft erstens Ausschlüsse bestimmter Stimmen aus dem Kreis derjenigen, die sich überhaupt öffentlich äußern können (Spivak 2020). Über eine Sprache zu verfügen, so banal es sein mag, setzt voraus, überhaupt lesen und schreiben zu können – und zu dürfen. Über das hinzutretende Erfordernis politischer Freiheitsrechte hinaus, erfordert Schreiben die drei klassischen woolf’schen Bedingungen: ein Zimmer für sich allein, die Freiheit, über seine Zeit verfügen zu können und ökonomische Unabhängigkeit (Woolf 1932). Diese Voraussetzungen sind jedoch gesellschaftlich ungleich verteilt, wie etwa Lorde mit Rekurs auf ihre eigene schriftstellerische Praxis herausstellt:
In den letzten Jahren habe ich unter schwierigen finanziellen Beding-ungen einen Roman geschrieben und den enormen Unterschied zwischen den materiellen Anforderungen von Dichtung und Prosa kennengelernt. Seit wir Anspruch auf eine eigene Literatur erheben, ist das Gedicht die wichtigste Ausdrucksform von Frauen, die von Armut bedroht sind, der arbeitenden Klasse angehören oder of Color sind. [...] Die Produktionsbedingungen von bildender Kunst legen entlang der Klassenunterschiede fest, wem welche Kunst gehört. (Lorde 2023, 133f.)
Das Problem der Stimme verstetigt sich in der Tendenz, dass in der Regel nur der elitäre literarische Kreis vernehmbar ist, der sich durchgesetzt hat. Selbst wenn vereinzelte Stimmen aus marginalisierten Gruppen in ihm kanonisch werden, so besteht die Gefahr, dass vorschnell angenommen wird, dass der Vielfalt bereits dadurch zur Genüge Rechnung getragen sei.
Insofern Schreiben und seine Wahrnehmung auf Privilegien beruht, ist
die Perspektive, die sich in einem Text artikuliert, eine solche, die
diese privilegierte soziale Situierung beerbt und wiederholt. Dies
beeinflusst wiederum die Themen, die Gegenstand von Literatur oder
ausgespart werden, aber auch die Art und Weise ihrer Darstellung. Dabei
kann der hermeneutische und imaginative Bezugsrahmen des Dargestellten
bereits problematische Elemente enthalten, weil er auf eine
vermeintliche Normalität rekurriert – beispielsweise im Kontext eines
Blickregimes oder einer hetero-normativen Matrix (siehe Mulvey 1975,
Emcke 2012 und Gansen, Walliser, Wallenfels 2022). Das, was somit
implizit im Exemplarischen vermittelt wird, bleibt daher oft unsichtbar,
weil es als selbstverständlich oder voraussetzungslos hingenommen wird.
Von daher kann es zweifelhaft erscheinen, ob Literatur wirklich dazu
beiträgt, an der Stelle eines „jeden anderen“ zu denken oder ob sie
nicht vielmehr dazu verführt, an der Stelle bestimmter anderer zu denken
und deren Perspektive unhinterfragt zu übernehmen bzw. sich dadurch in
der vermeintlich allseits geteilten Perspektive bekräftigt zu fühlen, so
dass verschleiert wird, dass es sich überhaupt um eine Perspektive
handelt. Besonders gilt dies dort, wo Romane zur Zerstreuung gelesen
werden, weil explizite wie implizite Inhalte unbewusst internalisiert
werden. Nicht zu vergessen ist, dass Bücher, genau wie Filme und Musik,
ökonomisch gesehen letztendlich Waren sind, die sich in die Logik der
Kulturindustrie einschreiben und der Zerstreuung und Unterhaltung
dienen. Unter Bedingungen der Kulturindustrie ist Literatur Massenware.
Weil die Einbildungskraft die Fähigkeit ist, Verknüpfungen zu erzeugen,
führt dies zu homogenisierten, kulturell erlernten Assoziationen und
Stereotypen, die unser Denken beschränken. Es ist also kein Wunder, dass
das Gros
belletristischer Literatur aus einer endlosen Wiederholung von
Stereotypen, gängigen Tropen und Erzählschemata besteht.21
Obwohl Kant das Lesen zur Zerstreuung nicht unkritisch sieht, vernachlässigt er diesen politischen Aspekt gänzlich – besonders, wenn er davon ausgeht, dass Literatur Menschenkenntnis lehren kann. Ohne dies grundsätzlich in Abrede zu stellen, ist eine umfassende Menschenkenntnis jedenfalls dann unmöglich, wenn unhinterfragt bleibt, welche Perspektiven zur Sprache kommen und welche nicht. Das Problem basiert, zumal in der Gegenwart, sicherlich nicht vorrangig darauf, welche Literatur überhaupt vorhanden ist, sondern vor allem darauf, welche in Umlauf gebracht, zur Kenntnis genommen wird und wie Werke beurteilt werden: Was gilt überhaupt als ernstzunehmende Literatur, was als Kitsch oder Trash? Wer legt das eigentlich fest, mithin aus wessen Perspektive ist das so? Auch hierin liegt ein weiteres Moment der Normalisierung und der Verstärkung bestehender Verhältnisse. Dieser Aspekt wird insbesondere in den mittlerweile rege geführten Debatten um Kanonkritik und -erweiterung betont, die sich gegen mangelnde Diversität richten (Clark et al. 2018). Die Überlegungen, die hier sowohl hinsichtlich der Normalisierungstendenz von Literatur als auch hinsichtlich ihres emanzipatorischen Potenzials angeführt wurden, laufen in dem Gedanken zusammen, dass die Auswahlkriterien dessen, was als exemplarisch gilt und was überhaupt intersubjektiv vermittelbar ist, ihrerseits unsichtbar bleiben.
Ihren Ausgangspunkt nahm die Untersuchung in der Feststellung, dass die Künste – zu denen die fiktionale Narration zählt – komplexe und mitunter ambivalente Ideen vermitteln und daher ein besonderes, imaginatives Engagement seitens der Rezipient:innen erfordern. Auch Kant schätzt die Dichtkunst als künstlerische Form, die das „freie Spiel der Einbildungskraft“ fördert, Verstand und Gemüt bereichert und ästhetische Ideen vermittelt, die über begriffliche Erklärbarkeit hinausgehen. Er erkennt, basierend auf seiner Konzeption des reflektierenden ästhetischen Urteils, dass Literatur exemplarisch vermitteln kann. Daher hat sie für ihn nicht nur ästhetischen, sondern auch praktischen Nutzen: Sie trägt zur Gesundheit des Gemüts, zur moralischen Bildung und zur anthropologischen Erkenntnis bei. Ausgehend davon haben wir gezeigt, dass Literatur nicht nur perspektivische Erkenntnis vermittelt, sondern Empathie fördert und den eigenen Horizont erweitert. In diesem Sinne ist sie ermächtigend, weil sie marginalisierte Stimmen in den Diskurs einbindet sowie Bewusstwerdung und Identitätsbildung befördert (In-Group-Disclosure), die wiederum eine Grundlage für Praktiken der Emanzipation darstellen. Darüber hinaus vermittelt Literatur ein lebendiges Wissen von fremden Realitäten und darüber vermittelt Einsichten in die eigene soziale Verortung (Out-Group-Disclosure). Allerdings kann das Romanlesen auch, wie Kant betont, negative gesellschaftliche Konsequenzen haben, vor allem wenn es bloß in konsumatorischer Absicht geschieht. Wie wir gezeigt haben, ist das Problem jedoch tiefgreifender als Kant es beschreibt: Literatur birgt die Gefahr, gesellschaftliche Homogenität zu normalisieren sowie bestehende Standards und Machtverhältnisse zu reproduzieren, etwa durch ein Übergewicht stereotyper Darstellungen. Diese Tendenz wird durch die materiellen Voraussetzungen ihrer Produktion und ihre Verbreitungsmechanismen noch verstärkt.
Dennoch gilt, dass nicht nur wegen der ästhetischen Erfahrung und des Werts, den Muße und Zerstreuung an sich haben, getrost mehr Romane gelesen werden sollten. Dies lässt sich aus der epistemischen Kraft schlussfolgern, die Literatur insbesondere auf jene auswirkt, die an der Erweiterung ihrer Perspektive und der Transformation ihrer Weltbeziehung interessiert sind. Hinlänglich bekannt ist die Empfehlung, außerhalb des Kanons zu lesen. Wie gezeigt, kommt es aber nicht nur darauf an, welche Literatur gelesen wird und von wem, sondern auch darauf, wie sie gelesen wird. Mit Kant gesprochen, sollte sie niemals passiv, sondern stets kritisch im Modus des Selbstdenkens, der ersten Regel des sensus communis (KU 5:294), rezipiert werden. Konkret bedeutet dies, Literatur immer zugleich als Ausdruck und Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen. Denn nur reflektiertes Lesen kann helfen, soziale Strukturen zu hinterfragen und Normalitätsvorstellungen zu reflektieren. So ist es auch möglich, mit etwas Sensibilität, selbst im Stereotypen und Normalen, das Subversive oder die widerständigen Elemente, die Kunsterzeugnissen auch stets zu eigen sind, zu erhaschen. Gerade weil wir nicht im sozialen Vakuum lesen, kann Literatur die Grenzen des Sichtbaren, des Vorstellbaren, des Verstehbaren und des Sagbaren verschieben, auch wenn sie dafür nicht hinreichend ist.22
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Die Schriften Kants werden unter Angabe der üblichen Kürzel und des Bandes nach der Akademie-Ausgabe zitiert.↩︎
Für gegenwärtige Auseinandersetzungen mit Kants Position zur Dichtkunst, die insbesondere den Vorurteilen, Kant hätte sich nicht auf relevante Weise mit Poetik beschäftigt, entgegentreten siehe Silva und Dörflinger 2023.↩︎
Davon zu unterscheiden sind das Urteil über das Angenehme und das reine Geschmacksurteil über das Naturschöne, hierzu siehe Berger 2022, 205f. Ob sich die Analytik des Schönen auch auf Kants Philosophie der Kunst erstreckt, ist umstritten. Wir folgen hier Reiter und Geiger (2023, 362ff.), die zeigen, dass die Analytik des Schönen nur für das begriffslose Naturschöne, nicht aber das Kunstschöne gilt (ibid. 371f.).↩︎
Über den logischen Aufbau des ästhetischen Urteils gibt es eine umfangreiche Debatte, insbesondere zur Frage, ob es sich um einen oder zwei Akte handelt (siehe Ginsborg 2018). Die Beantwortung hat jedoch keine inhaltlichen Konsequenzen für die hier verfolgte Fragestellung und kann daher ausgeklammert werden.↩︎
Kant unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Arten von Vorstellungen (A 320/B 376f.): Anschauungen und Begriffe. Die Anschauungen, um die es hier geht, sind Vorstellungen der Einbildungskraft und der Sinnlichkeit.↩︎
Während der konzeptuelle Gehalt literarischer Werke außer Frage steht, gibt es innerhalb der Kantforschung eine rege Debatte darüber, ob es sich bei ästhetischen Ideen um moralische (Guyer 1977) oder um rationale Ideen (Allison 2001, Chignell 2007) handelt. Während ein Streitentscheid hier nicht geleistet werden kann, entspricht die hier vertretene Position sachlich einer inklusiven und weiten Deutung ästhetischer Ideen (Matherne 2013, Wallner 2024). Denn die Exemplarität von Literatur beruht gerade nicht allein auf der Vermittlung eines Gesamtsinns (Scholz 2012), sondern wird davon bedingt, dass Literatur auch perspektivisches, performatives und nicht-propositionales Wissen vermittelt.↩︎
Kant verwendet das generische Maskulinum, bezieht sich aber auch ausschließlich auf männliche Autoren.↩︎
Für das Exemplarische verweisen Summa und Mertens sie auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, da dieses Werk den Deutschen Bildungsroman allererst definiert hat: Die Lehrjahre „bilden eine Art Prototyp, an dem sich die Charakteristika dieser Literaturgattung insgesamt allererst gewinnen lassen“ (ibid.). Kant verwendet den Begriff des Exempels im Kontext der Ästhetik sowohl in Bezug auf außergewöhnliche Kunstschaffende (KU 5:308), als auch auf ihre Produkte (KU 5:283).↩︎
Obwohl in der zuvor angesprochenen Passage auch ganz allgemein vom „Romanlesen“ (Anth 7:208) die Rede ist, handelt es sich hier nicht um die einzige Stelle, an der Kant dieses Problem dezidiert vergeschlechtlicht. So heißt es etwa bereits in den Bemerkungen zu den Beobachtungen zum Gefühl des Schönen und Erhabenen: „Die Romane machen edle Frauenzimmer phantastisch und gemeine albern“ und „edle Männer auch phantastisch, gemeine faul“ (Bem, 20: 9). Der Begrenzungsdiskurs um die bürgerliche Frau betrifft sogar die Kritik der reinen Vernunft, siehe Wallner 2024 b.↩︎
Kant bezieht sich hier auf die literarische Epoche der Empfindsamkeit, zu der die Werke von Sophie von La Roche und Friedrich Gottlieb Klopstock zählen, aber auch Goethes früher Briefroman Die Leiden des jungen Werthers.↩︎
Damit sollen Kants kontroverse sexistische und rassistische Äußerungen keineswegs mit Verweis auf seine Epochenzugehörigkeit gerechtfertigt werden.↩︎
Mehr noch: In einer Passage geht Kant sogar davon aus, dass der Poet nicht einmal über einen Charakter verfügt (Anth, 7:249).↩︎
Da Literatur aus Sprechakten besteht, ist sie stets performativ und potenziell transformativ (Haraway 1998, 48f., 68f.). Zur Performativität von Poetik siehe jüngst Mills 2025.↩︎
Obwohl Fricker diesen Begriff als eine Form epistemischer Ungerechtigkeit geprägt und dem Phänomen damit zu größerer Aufmerksamkeit innerhalb der Philosophie verholfen hat, muss betont werden, dass es insbesondere im schwarzen Feminismus und in der dekolonialen Theorie eine lange Geschichte der Problematisierung des Ausschlusses bestimmter epistemischer Akteur:innen von den Praktiken der Wissensproduktion gibt, siehe etwa Collins 2000, Lorde 2023, Lugones und Spelman 1983, Spivak 2020.↩︎
In diesem Sinne erklärt auch Sontag (2013): Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.↩︎
Literarische Werke werden mit Veröffentlichung wiederum Produkte und schreiben sich in die Logik der Ökonomie ein. Dabei verlieren sie in der Regel einen Teil ihrer emanzipatorischen subversiven Kraft.↩︎
Ein Teil der Überlegungen in diesem Abschnitt wurde von Larissa Wallner in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Sarah Lehnerer im Rahmen einer Sommerakademie für die Studienstiftung des Deutschen Volkes unter dem Titel Autofiktion als Transgress? entwickelt. Sarah Lehnerer sei an dieser Stelle gedankt.↩︎
In ähnlicher Weise unterscheidet Ney (2024) bezüglich des Potenzials von Metaphern um hermeneutischer Ungerechtigkeit und willful hermeneutical ignorance entgegenzuwirken zwischen esoteric und exoteric hermeneutical resistance.↩︎
Damit soll weder Aussage über die Autor:innenintention getroffen werden noch soll behauptet werden, dass jedes Buch entweder In-Group oder Out-Group-Disclosure bewirkt.↩︎
Dabei wird nicht zwischen Belletristik und Sachbuch und nicht zwischen Genres unterschieden.↩︎
Unberücksichtigt muss bleiben, dass narrative Literatur aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik auch noch ihren eigenen formalen, erzähltheoretischen Regeln und Genreregeln folgt. Sie zielt weder notwendig auf Wahrheiten noch auf das moralisch Richtige (KU, 5: 207, Berger 2022, 241ff.).↩︎
Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den wir auf der XI. Tagung für Praktische Philosophie in Passau gehalten haben; den Teilnehmer:innen sei an dieser Stelle für Anmerkungen, Einwände und Diskussion gedankt. Für hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen dieses Beitrags danken wir Philip Mills und den beiden anonymen Gutachterinnen der Zeitschrift für Praktische Philosophie. Larissa Wallners Arbeit an diesem Beitrag wurde durch ein von der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung finanziertes Fellowship (Oktober 2024 – Juli 2025) am Justitia Center for Advanced Studies der Goethe-Universität Frankfurt ermöglicht. Im Rahmen des Fellowships arbeitete sie auf Einladung von Rainer Forst am Forschungskolleg für Humanwissenschaften Bad Homburg. Rainer Forst und dem Kolleg sei an dieser Stelle herzlich gedankt.↩︎