Toleranz und/oder Paternalismus im engeren sozialen Nahbereich?

Autor:innen

  • Michael Kühler Twente

Schlagworte:

Toleranz, Paternalismus, sozialer Nahbereich, Freundschaft, Liebe

Key words:

toleration, tolerance, paternalism, close personal relationships, friendship, love

Abstract

Ist uns eine Person wichtig, möchten wir häufig zwei Haltungen zugleich an den Tag legen, die sich jedoch in einem Spannungsverhältnis zueinander befinden: einerseits eine tolerante Haltung und andererseits eine paternalistische. Zum einen sind wir üblicherweise der Überzeugung, dass andere und insbesondere uns Nahestehende ein Recht darauf haben, in ihren eigenen Angelegenheiten auch ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Dies gilt selbst dann, wenn uns diese Entscheidungen fragwürdig vorkommen. Wir haben diese dann zu tolerieren. Zum anderen neigen wir häufig erneut gerade bei nahestehenden Personen zugleich zu einer paternalistischen Haltung, wenn wir glauben, dass die Person nicht die für sie beste Entscheidung trifft. Wir wollen eben doch das Beste für diejenigen, die uns etwas bedeuten, und wir halten es in manchen Fällen durchaus für angebracht oder gar geboten, auch gegen den aktuellen Willen der uns Nahestehenden zu ihrem eigenen Wohl einzugreifen oder sie von vornherein in die „richtige“ Richtung zu beeinflussen.
In diesem Aufsatz diskutiere ich das konstatierte Spannungsverhältnis und weise zunächst die Auffassung zurück, dass schlicht die eine Haltung zugunsten der anderen aufzugeben ist. Anschließend diskutiere ich einen naheliegenden liberalen Vereinbarkeitsvorschlag, dem zufolge Toleranz im Wesentlichen Priorität genießt und Paternalismus nur in einer sehr eingeschränkten Variante möglich und akzeptabel ist. Demgegenüber argumentiere ich, dass der engere soziale Nahbereich nach einem umfassenderen Einbezug der paternalistischen Haltung und paternalistischer Eingriffsmöglichkeiten verlangt. Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass, obwohl die praktische Frage, wie in der jeweiligen Situation zu handeln ist, stets eine der konkreten Abwägung bleibt, die beiden Haltungen sich jedoch letztlich als ein jeweils zu einseitiger Ausdruck einer einzigen, umfassenderen Haltung verstehen lassen, nämlich einer um das Wohl und das selbstbestimmte Gelingen des Lebens der nahestehenden Person besorgten und unterstützenden Haltung.

English version

​Typically, we are inclined to exhibit two seemingly contradictory attitudes in close personal relationships at the same time, a tolerating attitude and a paternalistic one. On the one hand, we think that everyone has a right to make decisions about his or her way of life for him- or herself, and this also holds for people we care about, even if we think that the decision in question is wrong or bad for the person even according to her own standards or values. We have to tolerate these decisions. On the other hand, we are at the same time inclined to act paternalistically toward people we care about, simply because we want what is best for them.
In this paper, I discuss the tension between both attitudes and their action-guiding implications in the context of close personal relationships. In so doing, I, firstly, reject the idea that one attitude simply has to make way for the other. Secondly, I also reject a seemingly obvious, liberal way of combining them, which assigns priority to toleration and only allows for a very limited paternalism. This position falls short of taking into account the specifics of what it means to be in a close personal relationship with someone. Close personal relationships call for the possibility of a more extensive paternalistic attitude and way of acting. My conclusion is that, while the practical question of how to act remains open and has to be carefully considered in each situation anew, at least the two attitudes, ultimately, prove to be two sides of the same coin, namely of a more comprehensive attitude of care concerning the well-being and autonomous flourishing of the persons who are important to us.

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Zitationsvorschlag

Kühler, M. (2017). Toleranz und/oder Paternalismus im engeren sozialen Nahbereich?. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 4(2), 63–86. https://doi.org/10.22613/zfpp/4.2.3

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Aufsätze