Demokratie und Verschwörungstheorien

Eine unfreiwillige Partnerschaft?

Autor:innen

  • Lucas von Ramin

Schlagworte:

Verschwörungstheorien, Radikale Demokratietheorie, Kritische Theorie, Ideologie, Postfaktizität

Key words:

Conspiracy theory, radical democracy, critical theory, ideology, postfacticity

Abstract

Gegenwärtig wird das Wiedererstarken von Verschwörungstheorien explizit als Gefahr für die westlichen Demokratien begriffen. Einerseits, weil Verschwörungstheoretiker*innen die heutige Demokratie als manipuliert betrachten. Für sie wird Demokratie nur vorgespielt, die eigentlichen Entscheidungen werden an anderer Stelle getroffen. Andererseits, weil die Verbreitung genau jenes Glaubens ein Kernelement von Demokratien verunmöglicht: den fairen Streit um das beste Argument. Dabei stehen Verschwörungstheorien der Idee von Demokratie nicht diametral gegenüber, sondern bedienen sich dieser bisweilen als Inspirationsquelle, beispielsweise wenn das Volk sich gegen die Machenschaften einer korrupten Elite wehren soll. Der Beitrag untersucht deshalb, welche Verbindungen zwischen Verschwörungstheorien und Demokratie bestehen. Gibt es eine undurchdringbare Beziehung zwischen beiden Bereichen, die den Umgang mit ihnen zu einem fortdauernden normativen Problem werden lässt? Jener Beziehung wird auf zwei Wegen nachgegangen. Der eine Weg kann als Postfaktizitätsstrang bezeichnet werden. Die These lautet, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, die grob als Poststrukturalismus zusammengefasst werden, ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber etablierten epistemischen und politischen Strukturen transportieren. Diese eigentlich demokratische Öffnung ist dann als Einfallstor für absurde Theorien aller Art zu verstehen. Anhand der Theorien radikaler Demokratie wird diskutiert, weshalb gerade die epistemischen Grundlagen der Demokratie Verschwörungstheorien einen berechtigen Platz im demokratischen Diskurs einräumen sollen und wie sie sich wiederum von dem Diskurs abgrenzen lassen. Der Ideologiestrang dagegen betont nicht eine Auflösung von Gewissheit und damit eine relativistische Grundhaltung, sondern die Rückkehr zu ideologisch aufgeladenen Weltbildern, beispielsweise in völkischen Semantiken. Verschwörungstheorien, so lässt es sich in den Analysen Kritischer Theorie nachlesen, kreieren durch Komplexitätsreduzierung ein Verständnis der Welt, in dem sich entgegen aller globaler Vernetzung wirkliche demokratische Selbstbestimmung zurückerobern lässt. Als Elitenkritik antworten sie so auf Entfremdungsprozesse moderner Gesellschaften. Beide Stränge ergeben eine eigentümliche Gemengelage. Während einerseits der Aufstieg von Verschwörungstheorien auf Komplexitätssteigerung und dem damit verbundenen Zusammenbruch traditioneller und epistemischer Autorität zurückgeführt wird, werden Verschwörungstheorien andererseits als bloße Form der Komplexitätsreduktion verstanden. Folgend gilt zu zeigen, wie sich beide Stränge zueinander verhalten, um einerseits die erneute Popularität von Verschwörungstheorien zu verstehen und anderseits der Gefahr einer Instrumentalisierung demokratischer Semantiken etwas entgegenzuhalten. 

English version

Currently, the resurgence of conspiracy theories is explicitly understood as a threat to Western democracies. On the one hand, conspiracy theorists see today’s democracy as manipulated. To them democracy is only pretended, the real decisions are made elsewhere. On the other hand, the spread of precisely this belief makes a core element of democracies impossible: the fair dispute over the best argument. However, conspiracy theories are not diametrically opposed to the idea of democracy, but rather use democracy as a source of inspiration, for example, when the people are supposed to defend themselves against the manipulations of a corrupt elite. The article therefore examines the connection between conspiracy theories and democracy. Is there an inseparable relationship between the two that makes dealing with them an ongoing normative problem? That relationship is explored in two ways. One path can be called the postfacticity strand. The thesis is that scientific insights, roughly summarized as poststructuralism, convey a fundamental distrust of established epistemic and political structures. This actually democratic opening is then to be understood as a gateway for absurd theories of all kinds. On the basis of the theories of radical democracy, it is discussed why precisely the epistemic foundations of democracy should grant conspiracy theories a legitimate place in democratic discourse and how these theories, in turn, can be demarcated from the discourse. The ideology strand, on the other hand, does not emphasize a dissolution of certainty and thus a relativistic stance, but rather a return to ideological worldviews, for example in ethnic semantics. Conspiracy theories, as can be read in the analyses of critical theory, create an understanding of the world by reducing complexity, in which real democratic self-determination can be reconquered against global complexity. As a critique of elites, they thus respond to processes of alienation in modern societies. Both strands result in a peculiar situation. While on the one hand the rise of conspiracy theories is attributed to an increase in complexity and the associated collapse of traditional and epistemic authority, on the other hand conspiracy theories are understood as a mere form of complexity reduction. In the following, it will be shown how both strands relate to each other in order to understand the renewed popularity of conspiracy theories and to counter the danger of instrumentalizing democratic semantics.

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Zitationsvorschlag

von Ramin, L. (2023). Demokratie und Verschwörungstheorien: Eine unfreiwillige Partnerschaft?. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 9(2), 199–226. https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.8 (Original work published 4. März 2023)

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: Verschwörungserzählungen