Dekoloniale Ethik und die Grenzen der Redefreiheit

Enrique Dussels Ethik der Befreiung und die Pflicht zur Kritik an materieller und diskursiver Ausgrenzung

Autor:innen

  • Stefan Knauß

Schlagworte:

Dekoloniale Ethik, Kritik, Redefreiheit

Key words:

decolonial ethics, criticism, freedom of speech

Abstract

Der argentinische Philosoph Enrique Dussel ist im deutschen Sprachraum kaum noch präsent. Seine dekoloniale Ethik der Befreiung (Dussel 2000) widmet sich den von marginalisierten Gruppen gemachten Erfahrungen materieller und diskursiver Ausgrenzung. Der Subjekttypus des ego clamo bezeichnet einen ethisch relevanten „Hilfeschrei“ der seit dem europäischen Kolonialismus benachteiligten Menschen des globalen Südens. Dussels Ethik wird innerhalb der dekolonialen Theoriebildung um das Konzept der Kolonialität der Macht (span. colonialidad del poder) verortet, in ihrer Entstehung nachgezeichnet und auf aktuelle Fragestellungen der Toleranz, Pluralität und Meinungsfreiheit bezogen. Wie Aníbal Quijano und Walter Mignolo geht auch Enrique Dussel von der Persistenz spezifischer Machtstrukturen aus, die sich während des europäischen Kolonialismus etabliert haben. Nach Quijano impliziert Kolonialität der Macht soziale Klassifizierungen durch Kategorien wie Rasse (span. raza) und Geschlecht, die aus einer eurozentrischen Perspektive formuliert (Kolonialität des Wissens) und im kolonialen Zeitalter global handlungsleitend wurden (Kolonialität des Wissens). Dekolonialität soll derartige „Muster der Macht“ (span. patrón de poder) historisch aufweisen und mit verschiedenen epistemischen Strategien zu dekonstruieren. Dussels Ethik der Befreiung ist dabei auf die Dekolonialisierung von Subjektivität gerichtet. Sie fordert auf zur Übernahme der Perspektive materiell und diskursiv Benachteiligter. Die leibhaftige Präsenz vielfach ausgeschlossener Menschen begründet eine Pflicht zur Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie weist auf den blinden Fleck abstrakter, vom fiktiven Standpunkt der Allgemeinheit formulierter liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen hin: Sie blenden identitätsbasierte Formen der Exklusion methodisch aus. Individuelle, aber nicht zugleich kontingent gemachte Erfahrungen der Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe oder des Geschlechts können von der Mehrheitskultur einer Gesellschaft oft nicht ausreichend nachvollzogen werden. Mit Dussel lässt sich begründen, dass wir dennoch verpflichtet sind, uns mit den teilweise unbekannten und manchmal auch unbequemen Perspektiven der Anderen auseinanderzusetzten. Ein solcher Prozess der Konfrontation muss dabei jedoch jederzeit frei von Hass und Gewalt bleiben. Das Recht auf Freiheit des Ausdrucks wird überstrapaziert, wenn es die Fortsetzung diskriminierender Reden und ausgrenzender gesellschaftlicher Praktiken bedeutet. Ihm stehen manifeste Unrechtserfahrungen von Minderheiten entgegen, die deren Würde verletzen.

English version

The Argentine philosopher Enrique Dussel is hardly present in the German-speaking world. His decolonial ethics of liberation (Dussel 2000) is dedicated to the experiences of material and discursive exclusion made by marginalised groups. The subject type of the ego clamo denotes an ethically relevant “cry for help” by people of the global South who have been disadvantaged since European colonialism. Dussel’s ethics is located within decolonial theory around the concept of the coloniality of power (Spanish: colonialidad del poder), traced in its development and related to current questions of tolerance, plurality and freedom of opinion. Like Aníbal Quijano and Walter Mignolo, Enrique Dussel assumes the persistence of specific power structures that were established during European colonialism. According to Quijano, coloniality of power implies social classifications through categories such as race (Spanish raza) and gender, which were formulated from a Eurocentric perspective (coloniality of knowledge) and became globally action-guiding in the colonial era (coloniality of knowledge). Decoloniality is supposed to show such “patterns of power” (Spanish patrón de poder) historically and to deconstruct them with different epistemic strategies. Dussel’s ethics of liberation is thereby directed towards the decolonisation of subjectivity. It calls for the adoption of the perspective of the materially and discursively disadvantaged. The bodily presence of people who are often excluded justifies a duty to criticise the prevailing social conditions. It points to the blind spot of abstract liberal ideas of justice formulated from the fictitious standpoint of the generality: they methodically fade out identity-based forms of exclusion. Individual, but at the same time not contingent experiences of discrimination based on origin, skin colour or gender can often not be sufficiently comprehended by the majority culture of a society. With Dussel, it can be argued that we are nevertheless obliged to confront the sometimes unknown and sometimes uncomfortable perspectives of others. However, such a process of confrontation must remain free of hatred and violence at all times. The right to freedom of expression is overstretched when it means the continuation of discriminatory speech and exclusionary social practices. It is countered by manifest experiences of injustice by minorities that are violated in their dignity.

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Zitationsvorschlag

Knauß, S. (2023). Dekoloniale Ethik und die Grenzen der Redefreiheit: Enrique Dussels Ethik der Befreiung und die Pflicht zur Kritik an materieller und diskursiver Ausgrenzung. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 9(2), 333–350. https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.14 (Original work published 4. März 2023)

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Rubrik

Schwerpunkt: Redefreiheit und Kritik: Müssen wir alles tolerieren, was andere sagen?