Ein gutes Leben muss keine Geschichte erzählen

Gegen die Narrativitäts-These in der Moralphilosophie

Autor:innen

  • Anh Quan Nguyen University of Edinburgh

Schlagworte:

Lebenszeitstruktur, Narrativität, Zukunftspräferenz, Zeitpräferenz, zeitliche Handlungsfähigkeit

Key words:

shape of life, narrativity, future-bias, time-bias, temporal agency

Abstract

Philosoph:innen versuchen zunehmend zu erklären, warum die Struktur unseres Lebens normativ bedeutsam ist. Eine beliebte Erklärung, die von Dorsey (2015), Rosati (2013), Glasgow (2013), Kauppinnen (2012) und Velleman (1991) vertreten wird, ist die Narrativitäts-These: Was der Struktur unseres Lebens normative Bedeutung verleiht, sind die narrativen Relationen zwischen Lebensabschnitten, die verschiedene Teile des Lebens einer Person zu etwas Sinnhaftem verbinden. Sie fügen einem Leben einen Wert hinzu, der nicht auf momentanes Wohlbefinden reduziert werden kann. Da die narrative Lebensstruktur normative Bedeutung hat, ist ein Leben mit narrativen Relationen wertvoller als ein Leben ohne diese Beziehungen, da es mehr Sinnhaftigkeit erlangt. Mit anderen Worten: Unter sonst gleichen Bedingungen sollten wir unser Leben als Geschichte leben. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Narrativitäts-These falsch ist. Weder ist ein Leben besser, wenn es eine Geschichte erzählt, noch müssen wir unser Leben als eine Geschichte leben. Ich zeige drei Fälle, in denen wir intuitiv nicht der Narrativitäts-These folgen sollten, und gebe anschließend eine systematische Erklärung, warum narrative Beziehungen zwischen Lebensabschnitten normativ nicht bedeutsam sind: Es ist rational, uns von unserer Vergangenheit abzukoppeln und vergangenen Ereignissen und Lebensabschnitten keine normative Bedeutung beizumessen. Ich schließe mit einer Diskussion über Verdrängung und narrative Fehlschlüsse über wichtige Teile unserer Vergangenheit und wie wir uns vor beidem schützen können.

English version

In recent years, philosophers have tried to explain why the shape of our life is normatively significant. One particularly popular explanation, defended by Dorsey (2015), Rosati (2013), Glasgow (2013), Kauppinnen (2012), Velleman (1991) is the Narrativity-Thesis: What gives normative significance to the structure of our lives is narrative relations between different parts of our life, giving rise to meaningfulness, a value that cannot be reduced to momentary well-being. Given that the narrative shape of life carries normative significance, a life with narrative relations between different parts of life has more value, is more meaningful, than a life without. In other words, other things being equal, we should live our lives as a story. This paper argues that the narrativity-thesis is mistaken. Neither is a life better if it tells a story, nor do we have to live our live as a story. I provide three cases where we intuitively should not follow the advice of the Narrativity-Thesis, and provide a systematic explanation why narrative relations between parts of life are not normatively significant: We are rationally permitted to disconnect from our past, and assign no normative significance to past events and past parts of life. I will close with a discussion on repression and narrative fallacies about important parts of our past, and how we can guard ourselves against both.

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Zitationsvorschlag

Nguyen, A. Q. (2023). Ein gutes Leben muss keine Geschichte erzählen: Gegen die Narrativitäts-These in der Moralphilosophie. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 10(1). https://doi.org/10.22613/zfpp/10.1.8

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: Zeit und das gute Leben