Call for Papers: Intergenerationelle Perspektiven in der Ethik
Schwerpunkt-Herausgeber: Niklas Ellerich-Groppe und Dominik Koesling
Die Diskussionen im Zusammenhang mit den sogenannten ‚Klimaprotesten‘ von Fridays for Future oder der Letzten Generation und die öffentliche Debatte zur intergenerationellen Solidarität während der Corona-Pandemie haben ethische Fragen der Generationenbeziehungen wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Das gilt nicht nur für die Themenbereiche Klimaschutz und Gesundheitsversorgung: Von Fragen nach einem zukunftsfähigen sozialen Sicherungssystem, das die Lebensleistungen der älteren Generationen wertschätzt und den Jungen keine unangemessenen Lasten aufbürdet, über solide Staatsfinanzen mit einem angemessenen Verhältnis zwischen Finanzschulden und Investitionen bis hin zu Fragen nach einer angemessen demokratischen Beteiligung aller lebenden Generationen – in einer Vielzahl von Bereichen zeigt sich die Notwendigkeit, ethische Fragen auch explizit aus einer Generationenperspektive zu adressieren.
Dies wird auch in der philosophischen Debatte verstärkt deutlich: Angestoßen vom Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums (1972) sowie dem Brundlandt-Report (World Commission on Environment and Development 1987) stellt insbesondere Hans Jonas‘ einflussreiches Werk Das Prinzip Verantwortung (2020 [1979]) einen wichtigen Startpunkt für die philosophische Debatte zu Zukunftsthemen dar. Spätestens seitdem werden Fragen einer Verantwortung für zukünftige Generationen (Birnbacher 1995) bzw. danach, was wir künftigen Generationen schulden (Meyer 2018), auch explizit diskutiert und immer wieder (re)artikuliert. Zugleich reichen die Zeithorizonte des Ethischen (Rehmann-Sutter/Pfleiderer 2006) auch in die Vergangenheit und schließen etwa im Sinne einer historischen Gerechtigkeit (Meyer 2005) den angemessenen Umgang mit dem Erbe und der Schuld vergangener Generationen ein. Das betrifft einerseits die Verantwortung jüngerer Generationen für das positive Erbe und die Lebensleistungen ihrer Vorfahren, andererseits aber auch den angemessenen Umgang mit historischem Unrecht wie der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft oder dem Kolonialismus und einer entsprechenden Schuld, Verantwortung und Wiedergutmachung (Jaspers 2012; Rothberg 2019; Schefczyk 2011).
Aktuell sind es vor allem Fragen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zwischen den Generationen (Tremmel 2012; Gosseries/Meyer 2009), die den Diskurs prägen. Als konkrete Anwendungsbereiche haben sich prominent etwa Fragen der Klimaethik (Birnbacher 2016; Gesang 2011), speziell des Klimawandels (Roser/Seidel 2015) und der Nachhaltigkeit (Ott/Döring 2011), sowie der politischen Institutionen und der sozialen Sicherung (Gesang 2014; González-Ricoy/Gosseries 2016; Müller-Salo 2021) herausgebildet. Aber auch hinsichtlich der innerfamiliären Beziehungen (Betzler/Bleisch 2015; Bleisch 2018; vgl. auch den entsprechenden Schwerpunkt in dieser Zeitschrift 2015) und Fragen der Gesundheitsversorgung (etwa Munthe et al. 2020) sowie der Erziehungs- und Bildungsphilosophie (Ecarius 1998) gerät das Verhältnis der Generationen in den letzten Jahren zunehmend in den Blick.
Gleichwohl gilt bis heute: Wenn auch einzelne philosophische Auseinandersetzungen mit ethischen Fragen der Generationenbeziehungen deutlich werden, wird die Bedeutung von Fragen der Generationen/Generationalität für Begriffe, Konzepte, Anwendungsfragen und metaethische Voraussetzungen der Ethik bisher noch wenig systematisch behandelt.
Widmet man sich ethischen Fragen aus einer Generationenperspektive, rücken mehrere Merkmale in den Vordergrund. So liegt, erstens, ein besonderes Augenmerk auf der zeitlichen Dimension, indem einerseits die Konsequenzen vergangenen Handelns für die Gegenwart, andererseits die Folgen gegenwärtigen Handelns für die Zukunft aus ethischer Perspektive in den Blick genommen werden. Dabei sind, zweitens, unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen betroffen: Die synchrone und asynchrone Perspektive einer Ethik der Generationen sind auf der Makroebene der Gesellschaft wie auch auf der Mesoebene von Institutionen zu berücksichtigen, haben aber auch Auswirkungen auf der Mikroebene in der persönlichen Interaktion, etwa in der Familie. In diesem Zuge erweist sich, drittens, eine angemessene ethische Berücksichtigung des Verhältnisses früherer, gegenwärtiger und zukünftiger Generationen als Querschnittsaufgabe (Müller-Salo 2022), welche verschiedenste Anwendungsbereiche wie die Gesundheitsversorgung, Erziehung und Bildung, Ökologie sowie die Sozialpolitik betrifft. Damit verbunden sind schließlich auch besondere moralpsychologische und metaethische Herausforderungen, die etwa die Nachvollziehbarkeit ethischer Theorien und Fragestellungen über die Generationen hinweg oder Fragen nach Kollektiven als moralischen Akteure betreffen.
Das Schwerpunktheft soll zu einer Auseinandersetzung mit diesen und weiteren Fragen intergenerationeller Perspektiven in der Ethik einladen, die Begründungen moralischer Rechte und Pflichten zwischen den Generationen ebenso thematisiert wie die Frage eines guten – intra- und intergenerationellen – Lebens.
Beiträge können unter anderem die folgenden Themenbereiche und Fragestellungen adressieren:
1. Definition, Wahrnehmung und Verhältnis von Generationen
· Wovon sprechen wir, wenn wir von Generationen sprechen, und wie lässt sich das begründen? Wie sollten Generationen aus philosophischer Perspektive (besser) verstanden werden?
· Wie ist das Verhältnis der Generationen zu bestimmen? Auf welchen normativen Grundlagen fußen Generationenverhältnisse? Welche Rolle spielen dabei Ideen der Reziprozität, Kompensation, Schuld oder Dankbarkeit, aber auch der Erinnerung, des Gedächtnisses und der Tradition?
· Welche moralischen Ansprüche und Verpflichtungen lassen sich zwischen den verschiedenen Generationen begründen?
2. Ethische Begriffe und Konzepte in der Generationenperspektive
· Wie sind Begriffe wie Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Verantwortung und Sorge vor dem Hintergrund einer intergenerationellen Perspektive zu verstehen? Inwiefern verschiebt sich ihre Bedeutung in einer solchen Perspektive?
· Welche Rolle spielen Verträge und kontraktualistische Theorien im Rahmen von intergenerationellen Perspektiven in der Ethik?
· Was zeichnet ein gutes intra- oder intergenerationelles Leben aus?
3. Intergenerationelle Perspektiven in der angewandten Ethik
· Welche spezifischen Probleme werden aus einer intergenerationellen Perspektive in speziellen Bereichen (wie bspw. der medizinischen Versorgung, den Sozialsystemen oder der Nutzung von Land und Meer) sichtbar? Wie können sie sinnvoll aus einer intergenerationellen Perspektive adressiert werden?
· Welche politischen oder rechtlichen Voraussetzungen bestehen für eine gelebte Ethik der Generationen? Wie ist sie im alltäglichen Lebensvollzug auf persönlicher, kollektiver oder politischer Ebene (etwa in Erziehung und Bildung) organisierbar oder institutionalisierbar?
· Wie ist das Verhältnis zwischen intra- und intergenerationellen moralischen Ansprüchen zu bestimmen? Inwiefern ist es möglich, berechtigte intragenerationelle und intergenerationelle moralische Ansprüche gleichberechtigt zu erfüllen?
4. Theoretische, methodische und metaethische Voraussetzungen intergenerationeller Perspektiven in der Ethik
· Welche metaethischen und theoretischen Voraussetzungen haben intergenerationelle Perspektiven in der Ethik? Wie muss eine Ethik konzipiert sein, damit sie die Generationenbeziehungen adäquat berücksichtigen kann?
· Welche methodischen Voraussetzungen hat eine Ethik, die explizit die Generationenperspektive berücksichtigt, um etwa Zeithorizonte in der ethischen Auseinandersetzung angemessen abbilden zu können?
· Lassen sich allgemein verbindliche Maßstäbe ausweisen, die für jedwede intergenerationelle Ethik verbindlich sind? Welchen Umfang und welche Reichweite können sie beanspruchen?
· Wie lässt sich eine Ethik konzipieren, die über die Generationen hinweg nachvollziehbar ist?
· Wie ist mit den moralischen Ansprüchen umzugehen, die sich aus einer bestimmten generationellen Verortung speisen und die andere lebensweltlich nicht teilen können?
· Wie verändern sich ethisches Denken oder die Ethik durch eine intergenerationelle Perspektive über lange Zeithorizonte (bspw. Longtermism)? Wer zählt (dann) etwa zum Universum moralischer Subjekte?
Mit diesen und benachbarten Themen möchte das Schwerpunktheft Intergenerationelle Perspektiven in der Ethik möglichst breit abbilden. Willkommen sind Beiträge mit unterschiedlichsten methodischen Ansätzen. Zur Planung des Schwerpunkts bitten wir um die Einreichung von Abstracts mit einem maximalen Umfang von ungefähr 500 Wörtern bis zum 31. August 2023 per E-Mail an die Schwerpunktherausgeber Niklas Ellerich-Groppe (niklas.ellerich-groppe@uni-oldenburg.de) und Dominik Koesling (dominik.koesling@iem.uni-kiel.de). Die Einreichungsfrist der finalen Beiträge ist der 15. Dezember 2023 und die Einreichung erfolgt über die Homepage der Zeitschrift für Praktische Philosophie: https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/schwerpunkte. Informationen zu Umfang und Gestaltung des Manuskripts finden Sie hier: www.praktische-philosophie.org. Die Veröffentlichung des Schwerpunkthefts ist für Ende 2024 geplant.
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Bei Rückfragen, insbesondere zur thematischen Ausrichtung der Beiträge, kontaktieren Sie gern Niklas Ellerich-Groppe (niklas.ellerich-groppe@uni-oldenburg.de) oder Dominik Koesling (dominik.koesling@iem.uni-kiel.de).
Verwendete Literatur
Betzler, M., Bleisch, B. (Hrsg.) (2015): Familiäre Pflichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bleisch, B. (2018): Warum wir unseren Eltern nichts schulden. München: Hanser
Birnbacher, D. (1995): Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart: Reclam.
Birnbacher, D. (2016): Klimaethik. Nach uns die Sintflut? Stuttgart: Reclam.
Ecarius, J. (Hrsg.) (1998): Was will die jüngere mit der älteren Generation? Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Gesang, B. (2011): Klimaethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Gesang, B. (Hrsg.) (2014): Kann Demokratie Nachhaltigkeit? Wiesbaden: Springer.
González-Ricoy, I., Gosseries, A. (Hrsg.) (2016): Institutions for Future Generations. Oxford: Oxford University Press.
Gosseries, A., Meyer, L. H. (Hrsg.) (2009): Intergenerational Justice. Oxford: Oxford University Press.
Jaspers, K. (2012): Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. 4. Auflage. München: Piper.
Jonas, H. (2020 [1979]): Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Berlin: Suhrkamp.
Meadows, D. L., Meadows, D., Zahn, E., & Milling, P. (1972). Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Dt. Verl. Anst (DVA informativ).
Meyer, K. (2018): Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik. Stuttgart: Reclam.
Meyer, L.H. (2005): Historische Gerechtigkeit. Berlin: De Gruyter.
Müller-Salo, J. (2021): Diachrone Legitimität. Die Beständigkeit politischer Ordnungen als Herausforderung der Demokratie. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Müller-Salo, J: (2022): Offene Rechnungen. Der kalte Konflikt der Generationen. Stuttgart: Reclam.
Munthe, C., Fumagalli, D., Malmqvist, E. (2020): Sustainability principle for the ethics of healthcare resource allocation. In: J Med Ethics 47:90-97.
Ott, K., Döring, R. (2011): Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg: Metropolis.
Rehmann-Sutter, C., Pfleiderer, G. (2006): Zeithorizonte des Ethischen. Zur Bedeutung der Temporalität in der Fundamental- und Bioethik. Stuttgart: Kohlhammer.
Roser, D., Seidel, C. (2015): Ethik des Klimawandels. Eine Einführung. Darmstadt: WBG.
Rothberg, M. (2019): The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpetrators. Stanford: Stanford University Press.
Schefczyk, M. (2011): Verantwortung für historisches Unrecht. Eine philosophische Untersuchung. Berlin: De Gruyter.
Tremmel, J. C. (2012): Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Münster: mentis.
World Commission on Environment and Development (1987): Our common future. Oxford: Oxford University Press.