Mit MarxVac gegen Verschwörungserzählungen?

Zu möglicherweise immunisierenden Effekten marxistischer Gesellschaftsanalyse

Autor:innen

  • Steffen Göths

Schlagworte:

Demokratie, Verschwörungserzählung, Marxismus, Materialismus, Gesellschaftsanalyse

Key words:

democracy, conspiracy theory, Marxism, materialism, analysis of society

Abstract

Verschwörungserzählungen erleben im Zuge der Corona-Krise eine breite gesellschaftliche Beachtung und Anschlussfähigkeit. Dabei bleibt es nicht bei bloßen Agitationsversuchen seitens ihrer Anhänger:innen, sondern es kam zu Übergriffen auf vermeintlich an der Pandemie Schuldige sowie einer versuchten Stürmung des Reichstagsgebäudes im Kontext einer Querdenken-Demonstration. Von Verschwörungsgläubigen kann also tatsächlich eine konkrete Gefahr für diejenigen ausgehen, die innerhalb der Verschwörungserzählung als das Böse markiert werden. Es stellt sich also die Frage, auf welchem Wege hier bereits präventiv gewirkt werden kann. In seinen Überlegungen zur conspiracy theory of society kam Karl Popper zu dem Schluss, dass es sich bei Karl Marx aufgrund seiner Analyse der Gesellschaft um einen wichtigen Akteur gegen Verschwörungserzählungen handele. Popper begründete dies damit, dass Marx den Fokus auf gesellschaftliche Strukturen als Ursache für konkrete Entwicklungen lege, anstatt diese auf das Handeln von Individuen zurückzuführen. Sofern der Bezug auf das individuelle, geheime Handeln verborgener Personen eine Grundstruktur von Verschwörungserzählungen ist, ließe sich also ableiten, dass politische Akteure, deren Gesellschaftsanalyse sich in einer marxistischen Tradition bewegt, deutlich seltener auf Verschwörungserzählungen zurückgreifen dürften. Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismusstudie 2020 bestätigen diese Überlegung insofern, als der Verschwörungsglaube stark mit menschenverachtenden Einstellungen und rechtsradikalen Positionen korreliert. Gleichzeitig konnte bei den Querdenken-Demonstrationen eine breite Beteiligung von Personen jenseits der radikalen Rechten beobachtet werden, was durch Oliver Nachtwey mit den Worten „von links kommend, nach rechts gehend“ beschrieben wurde. Die mögliche Anschlussfähigkeit von Verschwörungserzählungen auch für Personen aus einem sich selbst als links definierenden Spektrum stellt das immunisierende Potential marxistischer Gesellschaftskritik gegenüber dem Verschwörungsglauben in Frage. Der Aufsatz unternimmt den Versuch, die Vereinbarkeit einer marxistischen Gesellschaftsanalyse mit dem Glauben an Verschwörungserzählungen zu prüfen. Dazu werden grundlegende Strukturen von Verschwörungserzählungen, wie etwa das manichäische Weltbild oder der Glaube an die absolute menschliche Handlungsmacht, mit den Prinzipien Marx’schen Denkens kontrastiert. Hierbei soll geprüft werden, welchen Beitrag eine marxistische Analyse zur Kritik an Verschwörungserzählungen leisten kann.

English version

During the Corona crisis, conspiracy theories are receiving broad societal attention. There are not only attempts of agitation by believers of such theories but also physical attacks on those who are seen as responsible for the pandemic. Associated with a demonstration of the Querdenken movement, there was an attempt to ambush the Reichstag, seat of the German legislative. Therefore, believers of conspiracy theories can be a threat to those who are perceived as the impersonated evil by such theories. Thus, the question is what may prevent this. In his reflections on the conspiracy theory of society, Karl Popper regarded Karl Marx as an important actor against conspiracy theories due to his analysis of society. Popper argues that Marx had a focus on the overarching structures of society as drivers of development rather than on the act of the individual actor. Considering that the obscure individual acting of hidden people is the core of conspiracy theories, it can be conducted that those whose analysis stands in a Marxist tradition are less likely to use such narratives. The results of the Leipzig study on authoritarianism from 2020 support this thought, as conspiracy believes are strongly correlated with positions of the radical right. Simultaneously, there was a strong participation in the Querdenken demonstration by people not coming from the radical right. This was described by Oliver Nachtwey as “coming from left, going to right”. The possible compatibility of conspiracy narratives for the left-wing spectrum challenges the assumption of its immunising effect of a Marxist critique on society. This contribution evaluates the compatibility of Marxist analysis with conspiracy believes. Therefore, the fundamental characteristics of conspiracy theories are contrasted with the principles of Marx’ thoughts. Afterwards, it will be discussed how a Marxist analysis can deliver a critique of conspiracy theories.

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Zitationsvorschlag

Göths, S. (2023). Mit MarxVac gegen Verschwörungserzählungen? Zu möglicherweise immunisierenden Effekten marxistischer Gesellschaftsanalyse. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 9(2), 227–242. https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.9 (Original work published 4. März 2023)

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Rubrik

Schwerpunkt: Verschwörungserzählungen